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Das Innere im Blick. Kerstin Westphalen ist Radiologin im Bergmann-Klinikum.

©  Andreas Klaer

Von Juliane Wedemeyer: Neun Leben an einem Tag

Kerstin Westphalen durchleuchtet Menschen. Sie ist eine von 300 Klinikärzten. Der Tag einer Radiologin:

Stand:

Von ihr hängen Menschenleben ab. Jeden Tag. An diesem sind es neun. Kerstin Westphalen ist Oberärztin auf der Radiologie des Klinikums Ernst von Bergmann. Sie arbeitet in einem der größten Unternehmen der Stadt. Rund 2000 Menschen sind dort angestellt, darunter rund 300 Ärzte. Die meisten Potsdamer waren in ihrem Leben schon einmal hier, manche gleich zur Geburt. Rund 36 000 Menschen behandeln die Bergmann-Ärzte jedes Jahr auf den Stationen, rund 130 000 versorgen sie ambulant.

Ungefähr vier Millionen Euro Gewinn hat das Klinikum 2008 erwirtschaftet. Es wächst. Es hat gerade eine Luxusstation für Privatpatienten eröffnet. Und gerade werden mehrere Stationen gleichzeitig renoviert. Das sind die Daten und Zahlen, die das Klinikum gern nennt. Die anderen legt der Betriebsrat vor: 781 Mal haben Mitarbeiter ihm gemeldet, dass sie überlastet sind. Sie haben sogenannte Überlastungsanzeigen gestellt. 2009 waren es allein in den ersten vier Monaten 326. Deutschlandweit haben in den vergangenen Jahren immer wieder Krankenhausärzte demonstriert, um auf miserable Arbeitszeiten aufmerksam zu machen, darauf, dass sie übermüdet Patienten behandeln müssen. Westphalens Arbeitstag ist acht Stunden lang. „Offiziell“, sagt sie.

Sieben Uhr: Kerstin Westphalen erreicht ihre Station. Ein langer Flur mit vielen Türen an beiden Seiten. Die Luft riecht nach Desinfektionsmitteln. „Oberärztin Kerstin Westphalen“ steht an einem der Türschilder. Der Raum ist vielleicht zwölf Quadratmeter groß, die Wände sind weiß gestrichen und nackt. Graue Jalousien verdecken die Fensterfront. Es muss möglichst dunkel sein, damit sie nachher die Röntgen- und Magnetfeldbilder auf den Bildschirmen gut erkennt.

Vor 20 Minuten ist sie mit dem Rad in Babelsberg losgefahren. Dort wohnt sie mit ihrem Mann und den drei Kindern. Das jüngste ist zwei, das älteste 12 Jahre alt. Kerstin Westphalen ist 38, aber sie sieht immer noch aus wie ein Mädchen. Sie lächelt viel. Das blonde wellige Haar hat sie zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie trägt einen weißen Kittel und grün-weiße Sandalen, eher bequem als schick. Aber ihre Zehennägel sind dunkelrot lackiert.

Sieben Uhr, 15 Minuten: Eine Assistenzärztin betritt den Raum. Sie setzt sich zu ihrer Chefin an den Arbeitstisch. Sieben Monitore stehen darauf. Momentan sind zwei in Betrieb. Die beiden Frauen beugen sich über die Bilder, die darauf zu sehen sind – schwarz-weiße Gebilde, Gewebestrukturen. Sie besprechen die Befunde, die die Untersuchungen im Brustzentrum am Vortag ergeben haben.

Um halb acht kommen die „Gynnies“, wie die Radiologen ihre Kollegen von der Frauenheilkunde nennen. Dann werden sie gemeinsam überlegen, wie die Patientinnen, zu denen die Brüste auf dem Monitor gehören, weiter behandelt werden sollen. „Wir streiten uns oft“, sagt sie.

Sieben Uhr, 50 Minuten: „Wie würden Sie entscheiden?“, fragt der Chef der Gynäkologie. Die Radiologin holt tief Luft: „Wenn das meine Brüste wären, würde ich beidseitig ablatieren“, antwortet sie. Es ist die schwerwiegendste Entscheidung an diesem Tag: Sie hat empfohlen, der Patientin beide Brüste abzunehmen. Auf der linken Seite hat die Frau einen riesigen bösartigen Tumor. Und die Gewebezellen der rechten Brust befänden sich bereits in einer Vorstufe zum Krebs. „Das Risiko wäre mir zu hoch“, sagt Kerstin Westphalen. Der Gynäkologe starrt abwechselnd auf den Bildschirm und auf die Patientenakte in seiner Hand. „Aber die Patientin ist noch so jung“, sagt er. „Wir müssen noch einmal darüber schlafen.“ Nach einer Stunde haben die Ärzte das Schicksal von fünf Frauen besprochen.

Acht Uhr, 30 Minuten: Kerstin Westphalen ist auf dem Weg zum OP. „Heute sind Gefäßdarstellungen dran“, erklärt Westphalen. Angiografie heißt das auf Medizinerdeutsch. Vor dem OP befindet sich ein Raum, in dem Computer und Monitore stehen. Ein Glasfenster gibt die Sicht in den gefliesten OP frei.

Über dem OP-Tisch ragen zwei riesige Maschinenarme von der Decke. Der eine hält drei Bildschirme, der andere das Röntgengerät. Röntgen funktioniert heute digital. Die OP-Schwester legt gerade mit einer Zange die Operationsinstrumente auf den Beitisch. Westphalen studiert erst den OP-Plan und dann die Akte des ersten Patienten. Eine Frau über 70 mit starken Rückenschmerzen. Die Ärztin verschwindet kurz. Als sie zurückkommt, hat sie den weißen Kittel gegen blaue OP-Kleidung getauscht. Darüber zieht sie Bleikragen, Bleiweste und Bleirock. Wegen der krebserregenden Röntgenstrahlen muss sie sogar Handschuhe aus Blei tragen.

Neun Uhr: Die Patientin liegt auf dem OP-Tisch. Sie hat einen angebrochenen Wirbel, der auf die Nerven drückt. Gleich wird Westphalen den Wirbel mit einem speziellen Zement füllen – so soll er wieder stabil werden. „Die Patienten spüren danach keinen Schmerz mehr“, sagt Westphalen noch. Dann verschwindet sie in den OP, wo schon die Anästhesistin und die Schwester warten. An der Tür leuchtet ein rotes Schild auf. „Röntgenstrahlen“ steht darauf.

Die Bildschirme im Vorraum zeigen das, was auch Westphalen auf den Monitoren im OP sieht. Grau, aber deutlich taucht darauf die Wirbelsäule auf. Über dem kaputten Wirbel liegt ein schwarzer Schatten. Nacheinander tauchen die Umrisse zweier Nadeln auf. Westphalen hämmert sie mit einem Metallhammer durch die Knochen. Jeder Schlag muss sitzen. Sie darf das Rückenmark nicht verletzen. Durch die hohlen Nadeln spritzt sie später den Zement.

Neun Uhr, 30 Minuten: Die Patientin ist wieder auf dem Weg auf ihre Station. Unter der schweren Bleiweste hat die Ärztin geschwitzt. Jetzt tippt sie das OP-Protokoll in den Computer. Jeder Patient hat eine digitale Akte samt Untersuchungsergebnissen, Röntgen- und Ultraschallbildern. Westphalens Pieper piept. Die Assistentin im Ultraschallraum benötigt Hilfe.

Zehn Uhr, 18 Minuten: Der nächste Patient wird in den OP geschoben. Westphalen hat schon wieder die OP-Kleidung an. Haube und Mundschutz lassen nur noch ihre Augen frei. Die Wirbel dreier Patienten sollen heute mit Zement gefüllt werden. Westphalen operiert einen nach dem anderen.

12 Uhr: Eine Mittagspause ist nicht drin. Zwischen den einzelnen OPs schreibt sie die Befunde. „Mein Mann schmiert mir jetzt immer Stullen“, erklärt sie. Er habe sich Sorgen gemacht, weil sie immer dünner wurde. Überhaupt sei er eine große Stütze. Der Architekt bringt den jüngsten Sohn morgens in die Kita. Am Nachmittag holt ihre Schwiegermutter, die ganz in der Nähe wohnt, den Kleinen ab und kümmert sich um die beiden anderen, wenn sie von der Schule kommen.

13 Uhr, 35 Minuten: Das Lächeln ist aus Kerstin Westphalens Gesicht verschwunden. Sie sieht erschöpft aus. Sie legt wieder die Bleiweste an. Der letzte Patient. Ein Kollege aus der Plastischen Chirurgie hatte angerufen und gebeten, dass sie die Blutgefäße eines Patienten durchleuchtet. Er will dem jungen Mann am nächsten Tag einen Hautlappen über eine offene Wunde am Unterschenkel nähen. Jetzt muss sie ihm Kontrastmittel in die Adern spritzen, damit die Gefäße auf den Röntgenbildern auch gut zu sehen sind.

14 Uhr, 20 Minuten: Visite. Westphalen besucht die Patienten, deren Wirbel sie operiert hat; macht mit jedem einzelnen Gehversuche. Der Mann einer Patientin ergreift ihre Hand, weint: „Ich bin Ihnen so dankbar, meine Frau musste soviel durchmachen“, sagt er. Jetzt lächelt Westphalen wieder.

15 Uhr, 13 Minuten: Die Radiologin schleicht sich in den Besprechungsraum. Sie ist zu spät. Eigentlich beginnt die tägliche Konferenz um drei. Der Chefradiologe stellt seinen Mitarbeitern besondere Fälle vor, lässt den Tag noch einmal Revue passieren.

15 Uhr, 30 Minuten: Kerstin Westphalen sitzt wieder in ihrem Raum. Sie packt die Brote aus. Ihr Mann hat sie mit Serrano-Schinken belegt. „Heut ist ein guter Tag“, sagt sie. „Ich bin fast fertig.“ Für fünf Patienten hat sie Behandlungsempfehlungen abgegeben, vier hat sie operiert. Sie müsse jetzt nur noch die Untersuchungsergebnisse der Assistenzärzte analysieren. In der Radiologie arbeiten drei Ober- und zehn Assistenzärzte. „Ich versuche, sie immer pünktlich heimzuschicken“, sagt Westphalen. Zumindest, wenn die Assistenzärzte keinen Nachtdienst haben.

Und sie selbst? „Ich bin eben leitende Angestellte“, sagt sie und zuckt mit den Schultern. Es sei doch klar, dass man erst nach der Arbeit nach Hause gehen kann. Um die 4000 Euro Brutto im Monat sollen Oberärzte im Klinikum verdienen. Für die Bereitschaftsdienste bekommen sie zusätzlich Geld. Neun Dienste hat Westphalen im Mai.

Es ist fast 17 Uhr und das Fahrrad von Kerstin Westphalen steht immer noch auf dem Innenhof des Klinikums.

Juliane Wedemeyer

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