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Landeshauptstadt: Nicht ausgelernt

Friedrich Reinsch hat mit fast 60 noch eine Ausbildung zum Gestalttherapeuten begonnen und leitet heute das Haus der Generationen und Kulturen am Schlaatz

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Gerade hat Friedrich Reinsch ein Internet-Café für Senioren eröffnet. Ältere Leute vom Schlaatz kommen jetzt ins Haus der Generationen und Kulturen am Milanhorst, um gemeinsam durchs Netz zu surfen. „Nach Art unseres Hauses“, sagt Reinsch, der den Begegnungstreff leitet und die Betonung auf „gemeinsam“ legt. Sich in den virtuellen Welten des Internets zu verlieren, das könne jeder für sich allein. Auch viele alte Menschen könnten das inzwischen. Friedrich Reinsch aber möchte, dass die Computer zum Kommunikations-Hilfsmittel in realen Beziehungen werden, dass sich Ältere und Jüngere hier im Café treffen und ihr ganz eigenes Netzwerk knüpfen.

Er selbst weiß es zu schätzen, sich gemeinsam mit anderen etwas Neues anzueignen. Eine Erfahrung des Älterwerdens. „Im Studium“, erinnert sich der heute 63-Jährige, „habe ich mich absolut auf mich selbst konzentriert. Jetzt fällt es mir leichter, in Gruppen hinein zu gehen und mich von Fremden bereichern zu lassen.“ Friedrich Reinsch gehört zu denen, die nie aufgehört haben zu lernen. Aus der Landwirtschaft kommend, hat er Geschichte und Philosophie, später Theologie studiert. Nach Jahren im sozialen Dienst der Kirche forderte der gesellschaftliche Umbruch radikales Umdenken. Beruflich und politisch hochaktiv, bleibt ihm jedoch wenig Zeit, die grunderschütternden Veränderungen tatsächlich zu verarbeiten. Die Wege, auf denen er vermeintlich sicher gegangen war, laufen schließlich alle auf einen Punkt zu. Einen toten Punkt.

Zeit, noch einmal neu zu lernen, scheinbar gesichertes Wissen in Frage zu stellen, Sichtweisen zu ändern, nun wirklich zu sich selbst zu finden. Mit 53 Jahren geht er an die Berliner Humboldt-Universität, beschäftigt sich in der Arbeitsgruppe Sozialökologie mit dialogischen Verfahren. Anderen Menschen wertschätzend zu begegnen, sie in ihrer Unterschiedlichkeit als besonders und einzigartig zu sehen – das wird für ihn zur Voraussetzung für gleichberechtigten Dialog. Ein Prinzip, das, so einfach es erscheinen mag, nur allzu selten verinnerlicht wird. In Praxisprojekten und später in sozialen Organisationen kann Friedrich Reinsch als Berater helfen Kommunikationsbarrieren zu durchbrechen und Krisen zu bewältigen. Aber nicht mit klugen Ratschlägen, sondern in dem er sich zusammen mit den Klienten fragend auf die Suche begibt. Irgendwann öffnen sich bislang verschlossene Türen. Eine Erfahrung, die ihn immer wieder aufs Neue fasziniert. Und weil er auf diesem Gebiet weiter kommen und noch besser verstehen will, beginnt er fast 60-jährig eine Ausbildung zum Gestalttherapeuten.

Lernen ist für Friedrich Reinsch keine Frage des Alters. „Es geht nicht darum, sich mit Sprachkursen oder Gedächtnisübungen geistig fit zu halten, sondern immer weiter nach Erkenntnis zu streben. Das Schöne beim fortgeschrittenen Lernen ist ja, dass sich alles mehr und mehr miteinander verbindet.“

Sicher, für manches braucht er etwas länger. Der Kopf nimmt neues Wissen nicht mehr im Vorübergehen auf. Und Dinge, die ihn nicht wirklich interessieren, rauschen an ihm vorbei. Um so mehr genießt er es, endlich völlig selbstbestimmt zu lernen. Nicht für den Lehrer oder Zensuren, nicht für die Karriere oder einen Berufsabschluss, sondern einzig für sich selbst. Es ist wie beim frühkindlichen Lernen, motiviert allein vom Interesse, eine Sache zu begreifen oder einen Menschen zu verstehen. „Als käme man auf einer höheren Ebene darauf zurück“, so sein Fazit. Zu häufig im Leben haben auch ihn äußere Zwänge davon abgehalten. „Weil wir in Abhängigkeiten leben, ist die Verführung groß, Dinge zu tun, die nicht gut sind für einen selbst“, sagt er zurückschauend und ist nun froh, sich ein gutes Stück geistiger Freiheit zurückerobert zu haben.

Seine berufsbegleitende Ausbildung läuft zumeist am Wochenende. Zeit, die auch Friedrich Reinsch eigentlich zur Erholung bräuchte. Andererseits zieht er aus den Seminaren und Trainings so viel Wissen, das ihn bei seiner jetzigen Arbeit am Schlaatz gut voranbringt. Menschen sehr verschiedener Herkunft, hier nicht selten in schwierigen Verhältnissen lebend, kommen im Haus der Generationen und Kulturen zusammen. Über die normalen Sprachbarrieren hinaus eine besondere Herausforderung für jemanden, der Begegnung ermöglichen und Dialoge eröffnen will. „Da geht nichts ohne Vertrauen“, weiß Friedrich Reinsch. Das aber gewinnt er nur, wenn er den anderen ernst nimmt, ihn wirklich kennen lernen will. Auch eine Form des Lernens. Für Friedrich Reinsch eine der interessantesten und ergiebigsten. „Ich bin so viel offener geworden und kontaktfreudiger.“

Gut ist auch, dass von ihm nicht erwartet wird, bei Problemen und Konflikten die passenden Lösungen parat zu haben. „Ich muss für den Ratsuchenden nicht die Antworten wissen, aber ich kann ihm helfen, die richtigen Fragen zu stellen, damit er sich selbst aus seiner schwierigen Lage heraus neu organisieren kann.“ Ein Lernprozess für beide Seiten.

Noch in diesem Jahr wird Friedrich Reinsch seine Ausbildung abschließen. Würde er eine Praxis als Gestalttherapeut eröffnen wollen, bräuchte er noch einen Heilpraktikernachweis. „Dann mach'' ich den eben auch noch“, sagt er und lacht. Vorerst aber hat er genug zu tun und geht in seiner Arbeit am Schlaatz völlig auf. „Ich bin so beschäftigt, habe so viele Ideen im Kopf.“ An ein Auslernen ist nicht zu denken.

Antje Horn-Conrad

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