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Landeshauptstadt: Nicht ein Gast kam zum Hochzeitskaffee

Als sich Gertrud und Herbert Richter vor 60 Jahren das Jawort gaben, marschierten gerade die Amerikaner ein. Heute wird doppelt gefeiert

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Als sich Gertrud und Herbert Richter vor 60 Jahren das Jawort gaben, marschierten gerade die Amerikaner ein. Heute wird doppelt gefeiert „Das ist schon 60 Jahre her“, schaut Herbert Richter seine Frau Gertrud ungläubig an, als würde er in ihren Augen immer noch das jugendliche Funkeln sehen. Die sechs Jahrzehnte Ehe seit ihrem Jawort am 12. April 1945 scheinen wie im Fluge vergangenen zu sein. Die Zeit hat sich in den unzähligen Erinnerungen aufgelöst. Auch schlimme, tragische Ereignisse wiegen in den Erzählungen der beiden über 80-Jährigen nur halb so schwer; vielleicht, weil sie sie gemeinsam durchlitten und gemeinsam überstanden haben. Das junge Paar bestellte sein Aufgebot vor 60 Jahren im Standesamt und in einer kleinen Kirche in Groß Mühlingen bei Magdeburg, wo die Mutter der Braut lebte. In der Nacht vor der Trauung habe es „Feindalarm“ gegeben, erinnert sich Gertrud Richter. Als sie Tags darauf den Bund fürs Leben schlossen, überreichte der Standesbeamte ihnen noch Hitlers „Mein Kampf“ und draußen marschierten schon die Amerikaner in das kleine Städtchen ein. „Zur Kirche schafften wir es nicht mehr.“ Und auch die geladenen Gäste trauten sich nicht aus dem Haus und blieben aus, obwohl Kaffee und Kuchen organisiert waren. Den kirchlichen Segen sollten sich die Richters erst genau ein Jahr später holen. Frisch vermählt mussten die Beiden zurück in die Oberlausitz, wo Herbert Richter die Geschäftsführung des elterlichen Betriebs übernommen hatte. „Wir fuhren mit dem Fahrrad.“ Sie im vierten Monat schwanger, er als „halber Mensch“. Im Winter 1943 war Herbert Richter der rechte Arm weggeschossen worden, im Lazarett musste man ihm auch noch ein Bein amputieren. Wegen starker Erfrierungen war es nicht mehr zu retten. Gertrud Richter hatte ihren späteren Mann kennen gelernt, als er bereits Kriegsversehrter war. Schon als junge Frau liebte sie das Tanzen und Herbert nahm die damalige Untermieterin seiner Eltern mit zum Schwofen. „Er hat mir zwar mit seiner Beinprothese auf den immer gleichen Zeh getreten, bis er blau war“, zeigt die kleine lustige Frau auf ihre Füße. Aber ansonsten sei er ein wunderbarer Tänzer, der auch noch heute beim Seniorentanz begehrter Partner sei. Zum Studium des Bauingenieurwesens ging Herbert Richter noch vor Ende des Zweiten Weltkrieges nach Magdeburg. Hier hatte er auch seine erste Dienststelle bei der staatlichen Bauaufsicht und mit Frau und Kind die erste gemeinsame Bleibe. 1959 zogen die Richters dann nach Babelsberg in die Dianastraße um, die zwei Jahre später Grenzgebiet wurde. An dem Haus, in dem zuvor sowjetische Soldaten gehaust hatten, war viel zu tun: Den Beobachtungsposten im Dach entfernen, Innentreppe erneuern, Garten anlegen. „Arbeit macht das Leben süß“, müssen sie sich wohl damals öfter zur Aufmunterung gesagt haben. Überhaupt haben die Beiden immer versucht, das Beste aus allem zu machen und auch dem vorherrschenden Mangel an vielem entgegenzutreten. Dabei erwies sich Herbert Richter als wahres Organisationstalent. Durch seine Arbeit als Autobahn- und Brückenbauer war der Ingenieur fast täglich unterwegs. Mal brachte er eine Kiste Orangen mit nach Hause, mal Bananen oder wovon es sonst wenig gab. Einmal sei ein Lkw aus dem Norden auf der Strecke Rostock – Berlin umgekippt. Seine Ladung landete auf der Straße, eine Einladung an Herbert Richter, sich zu bedienen. „Und so kam mein Mann mit einer Kiste voller Gläser mit eingelegten Rollmöpsen nach Hause“, lacht die Jubilarin. Das Emsige „seiner Gertrud“ imponiert Herbert Richter bis heute: „Meine Frau ist flink wie ein Wiesel: Bei der Arbeit, schriftlich und mündlich, das geht alles ganz schnell.“ Sie schätzt besonders seine Großzügigkeit. „Ich darf überall hin, auch allein.“ Es sei das tiefe Vertrauen zueinander, mit dem man 60 Jahre Ehe, die Diamante Hochzeit erreiche. Und mit Familiensinn. „Mein Mann ist ein Familienmensch“, sagt die 80-Jährige mit Bewunderung. Bis vor wenigen Jahren habe er als Sippenältester Jahrzehnte lang das „Stammestreffen“ der Richters organisiert, die allesamt sehr kinderreich sind. Gertrud und Herbert Richter haben selbst zwei Töchter und zwei Söhne, fünf Enkel und ein Urenkel. Wenn alle direkten Verwandten mit Partner, Kindern und Kindeskindern zum Treffen erscheinen, kommen über 80 Personen zusammen. Das sei zwar anstrengend, geben die beiden alten Leute zu, aber auch herrlich. Deshalb seien zu ihrem heutigen Jubiläum auch fast alle geladen.

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