zum Hauptinhalt
Gegen politische Apathie: Axel Smend würdigte Siegfried Wagner.

© Manfred Thomas

Landeshauptstadt: Nicht vergebens

Wollte sich töten, weil er zu viel wusste: Oberst Siegfried Wagner, Verschwörer des 20. Juli

Stand:

Innenstadt - Ganz genau weiß es keiner der Anwesenden. Der älteste Enkel Klaus Zehe sagt, es müsse ein bestimmtes Dachfenster im dritten Stock gewesen sein und deutet nach oben. Hinter dem gezeigten Fenster befindet sich heute das Wartezimmer einer Kinderarztpraxis; Mütter und Väter haben von dort einen schönen Blick über die Dächer der Stadt. Am 22. Juli 1944, zwei Tage nach dem gescheiterten Attentat auf Adolf Hitler, stehen zwei Männer von der Geheimen Staatspolizei vor dem Haus Kurfürstenstraße 19 und fordern Oberst Siegfried Wagner zum Mitkommen auf. Wie es sein Enkel heute schildert, verlangt der in Zivil gekleidete Abteilungschef im Oberkommando der Wehrmacht, sich noch seine Uniform anziehen zu dürfen. Die Gestapo-Leute warten, in seiner Wohnung schickt Siegfried Wagner seine Frau ins Erdgeschoss mit dem Vorwand, sie möge von dort seine Mütze holen, die sich bei seinem Adjutanten befinde. Dann stürzt sich der Verschwörer aus dem Fenster und schlägt hart auf dem Pflaster auf.

„Er wollte sich seiner Verhaftung durch Selbstmord entziehen“, erklärte gestern Axel Smend, Kuratoriumsvorsitzender der Stiftung 20. Juli 1944, vor dem heutigen Ärztehaus Kurfürstenstraße 19. Am Vorabend des heutigen Tages des deutschen Widerstandes erinnerten Smend und die Potsdamer CDU mit ihrer Vorsitzenden Katherina Reiche an Oberst Siegfried Wagner, Potsdamer Angehöriger des deutschen Widerstandes gegen das NS–Regime, der im gescheiterten Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 gipfelte. „Mich dürfen sie nicht fangen“, soll der Verschwörer seiner Tochter Ruth Felicitas gesagt haben: „Ich weiß zu viel.“ Smend zufolge erlitt Wagner Becken- und Rippenbrüche. Er wurde zunächst ins Potsdamer Lazarett, tags darauf ins Konzentrationslager Sachsenhausen gebracht, „wo er ununterbrochen verhört wurde“, bis er am 26. Juli 1944 starb. Bei einem erfolgreichen Attentat wäre Siegfried Wagner Beauftragter für den Wehrkreis Hannover geworden. 1947 erhielt die Familie Wagner – Siegfried Wagner hatte vier Töchter – einen Brief des Wagner-Vertrauten Edward Jenö von Egan-Krieger. Dieser schrieb: „Dass er meinen Namen nicht genannt hat, werde ich meinem treuen Freund nicht vergessen.“

Wenn auch die exakte Staatsauffassung der Widerständler des 20. Juli eine andere war, als jene, die im Grundgesetz ihren Niederschlag fand, so waren doch deren Ideale dessen Grundlage, erklärte Katherina Reiche. „Ihr Widerstand richtete sich gegen Unrecht und Barbarei“, so die Bundestagsabgeordnete und Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundesumweltministerium. Der 20. Juli sei der „Tag der Freiheit und des Rechts“.

Die von Oberst Graf von Stauffenberg in der Wolfsschanze, dem Führerhauptquartier bei Rastenburg in Polen, gezündete Bombe verletzte Hitler nur leicht. „War das Attentat vergeblich?“, fragte gestern Axel Smend, Sohn von Günter Smend, der zu den Verschwörern des 20. Juli 1944 gehörte und am 8. September 1944 hingerichtet wurde. Und er weitete die Frage aus: War der Tod vieler Widerständler umsonst, der Tod der Geschwister Scholl, der Tod des Hitler-Attentäters Georg Elser, der Tod von vielen Mitgliedern des Kreisauer Kreises und der Roten Kapelle? „War ihr Leid und die Trauer der Angehörigen vergeblich?“, fragte Smend – und antwortete: „Ja, erfolglos war das Attentat, aber nicht vergebens.“ Der Aufstand des Gewissens sei heute fester Bestandteil der geschichtlichen Identität – und das betonte Smend besonders – des wiedervereinigten Deutschlands. Jede Generation stehe vor der Aufgabe, die Demokratie zu verteidigen – „gegen Gleichgültigkeit, politische und gesellschaftliche Apathie, Resignation, Mattigkeit“, erklärte Smend.

Klaus Zehe steht unter dem Fenster, aus dem Siegfried Wagner sprang. Er erinnert sich an einen „liebenswürdigen Opa“. Der Familie gelang es, Siegried Wagner zunächst in einem Reihengrab zu beerdigen und im August 1944 in das Familiengrab auf dem Babelsberger Friedhof umzubetten. Die Sterbeurkunde für Siegfried Wagner stellte das Standesamt Oranienburg aus – nach der Wende 1989. Guido Berg

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })