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Betreuer Sven Frische: Wir wollen die Jugendlichen nicht brechen.

© A. Klaer

JUGENDRECHTSHÄUSER: Nie mehr andere Kiefer brechen

Beim Anti-Aggressions-Training sollen junge Potsdamer lernen, nicht mehr gewalttätig zu sein

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Tim T.s* Worte sind unmissverständlich, wenn er über sein bisheriges Leben spricht. „Irgendwann kam bei mir der Knack, dass ich bei Gewalt keine Schmerzen mehr hatte, sondern Spaß.“ Der 21-jährige Potsdamer redet aber nicht nur, sondern hat auch oft zugeschlagen. Zuletzt vor einem Jahr, als er auf dem Weg zu einem Neonazi-Aufmarsch einem linken Jugendlichen den Kiefer brach, nachdem dieser eine Weinflasche nach Tim T. geworfen hatte. Nun sitzt der junge Mann mit den kräftigen tätowierten Armen in einem Seminarraum – beim Termin für das Anti-Aggressions-Training, dass Tim T. nach der Schlägerei absolvieren muss.

Organisiert ist das Treffen vom Jugendrechtshaus e.V. in der Stubenrauchstraße. Seit etwa drei Jahren bietet der Verein solche Kurse im Auftrag des Potsdamer Jugendamtes an – neuerdings in Zusammenarbeit mit der Jugendgerichtshilfe. Am Anti-Gewalt-Programm müssen Jugendliche teilnehmen, wenn für Richter absehbar ist, dass sie ihre Aggressionen nicht unter Kontrolle bekommen und ihnen deswegen eine kriminelle Laufbahn droht. Derzeit reicht die Finanzierung der Kurse für zirka zehn junge Potsdamer, die dafür dreizehn Mal jeweils vier Stunden ihrer Zeit aufwenden müssen. Der geschulte Leiter des Trainings ist Sven Frische: „Die Jugendlichen sollen hier darüber reden, was bei ihnen falsch läuft, wovon sie sich provozieren lassen.“

Die Erklärungen in der aktuellen Trainingsgruppe variieren. Einer sagt, er habe ein Ventil für angestaute Wut gesucht – mit einem Hammer in der Hand versuchte er schließlich, Geld von mehreren Personen zu erpressen. Matze dagegen reagiert stets, wenn er Freunde beleidigt oder bedroht wähnt. Bei der Babelsberger Livenacht vor einem Jahr schlug er im alkoholisierten Zustand einem anderen Jugendlichen eine Flasche Wein ins Gesicht, weil der einen Freund gerade „geboxt“ hatte. Bei Tim T. dagegen gehört das Gewaltproblem offenbar eindeutig in die Familie. „Mein Bruder ist auch rechtsextrem.“ Auch über seinen Vater habe er schon immer das Bild vermittelt bekommen, „sich zu wehren und niemals einzustecken.“ Manchmal habe er aber auch regelrecht Situationen provoziert, um zuschlagen zu können, sagt Tim T. heute.

Auch im Kurs hat er darüber gesprochen. Eine dabei verwendete Methode trägt den Namen „Der heiße Stuhl“, ein bundesweit angewendetes Verfahren. Dabei müssen die jungen Straftäter vor allen anderen Kursteilnehmern über ihr Vergehen berichten, in allen Details, und werden in eine Art bohrend-fragendes Kreuzverhör genommen. „Damit soll herausgefunden werden, an welcher Stelle jemand ausrastet – und er im Fall der Fälle diesen Punkt vorhersehen und gegensteuern kann“, sagt Trainer Frische – und betont gleichzeitig, dass es dabei aber nicht darum gehen könne, die Jugendlichen „zu brechen“. Wie wirksam solche Methoden sind, steht nicht genau fest – eine Evaluation über die Rückfallquote gibt es nicht.

Tim T. hat seine eigenen Schlüsse aus den Besuchen gezogen. Einen Schlagring, wie er ihn früher in seinem Schuh versteckt hatte, trägt er nicht mehr bei sich. „Nicht mehr so provokant wie früher“ will er durch Potsdams Straßen gehen. Ein Grund dafür: Seine Freundin. „Ich meide jetzt auch Veranstaltungen, bei denen es Stress geben könnte“, sagt Tim T. Andererseits sagt er aber auch ganz klar, obwohl er den Kurs auch mit Migranten besucht hat, dass er bei seiner rechtsextremen Meinung geblieben ist. „Ich versuche das jetzt auf dem legalen politischen Weg, entwerfe zum Beispiel Flyer für die Szene“, so Tim T. Und er sagt noch etwas, das die Grenzen von Anti-Aggressions- Kursen erkennen lässt. Es geht um das Opfer von damals. „Als ich ihn nach dem Kieferbruch mit den Schienen im Gesicht gesehen habe, musste ich mir das Lachen verkneifen.“ (* Namen geändert) H. Kramer

Ein Modell wie das Potsdamer Jugendrechtshaus und dessen Trägerverein gibt es auch anderswo – in neun deutschen Bundesländern sind solche Einrichtungen zu finden. Sogar ein Bundesverband der Jugendrechtshäuser Deutschland e.V. existiert. Ziel der Projekte ist demnach, dass Jugendliche und ihre Eltern oder Betreuer leicht Hilfeangebote zu Themen wie Kriminalität und Sozialkompetenz erhalten. Dazu kommt die Vermittlung demokratischer Werte. Chefin des Potsdamer Jugendrechtshauses ist Christiane Dreusicke, zugleich Präsidentin am Amtsgericht. Nächste Woche hat ihr Verein einen wichtigen Termin: Das Potsdamer Jugendamt stellt dann die Arbeit des Jugendrechtshauses vor Journalisten vor. pbi

H. Kramer

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