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Homepage: „Nur an der Oberfläche gekratzt“

Harvard-Philosoph Stanley Cavell über Moral, Unsicherheit und Wittgenstein

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Stanley Cavell, 1926 geboren, zählt zu den wichtigsten und eigenwilligsten Philosophen der Gegenwart. Von 1963 bis 1997 lehrte er in Harvard. Sein Hauptwerk „Der Anspruch der Vernunft. Wittgenstein, Skeptizismus, Moral und Tragödie“ erschien jüngst im Suhrkamp Verlag. Das Potsdamer Einstein Forum und seine Leiterin, Susan Neiman, waren maßgeblich an der Publikation beteiligt. Am vergangenen Freitag hielt der Philosoph einen Vortrag im Einstein Forum, die PNN sprachen mit ihm.

Sie haben Ihr Buch „Der Anspruch der Vernunft“ bereits im Jahre 1979 in den USA veröffentlicht. Ist es nicht merkwürdig für Sie, es heute wieder zu lesen?

Ja. Aber es ist auch ein sehr angenehmes Gefühl. Denn für mich bedeutet Philosophie, immer wieder zu etwas zurückzukehren. Zu etwas zurückzukehren, von dem man dachte, man habe es verstanden. Von dem man dann feststellt, dass man nur an der Oberfläche gekratzt hat.

Wie ist das Buch entstanden?

Die ersten drei Teile des Buches sind Abwandlungen meiner Doktorarbeit über den Philosophen Ludwig Wittgenstein. Als ich den längeren vierten Teil fertig hatte, reichte ich das Buch 1961 bei dem Verlag der Universität Oxford ein. Aber es wurde erst 18 Jahre später veröffentlicht. Ich habe ja auch 16 Jahre gebraucht, um es zu schreiben!

Was versuchten Sie damals zu schreiben?

Gute Frage! Wo soll ich nur anfangen? Eine Anfangsfrage war für mich, ob man in rationalen Begriffen über Moral sprechen kann. Von der ersten Stunde an haben sich Philosophen gefragt, ob man vernünftig über Moral streiten kann. Schon Platon und Aristoteles fragten sich das. Und als ich anfing, Philosophie zu studieren, war das eine brennende Frage

Daher kommt das Wort Moral im Titel des Buches.

Genau. In den 1940er und 50er Jahren sagten die größten Philosophen in den USA, dass moralische Aussagen irgendwie bedeutsam seien, aber nicht in einem wissenschaftlichen Sinne. Dass sie nur eine emotionale Bedeutung hätten, und oft sagte man „nur“ emotional. Das empfand ich als ein Zerrbild von Moral und als philosophisch primitiv. Aber sehr kluge Leute sagten das. Und ich wollte dagegen ankämpfen. Ich suchte nach einer bestimmten Form von Vernunft, die mit Moral vereinbar sein sollte.

Bei der deutschen Übersetzung hat Susan Neiman mitgewirkt. Wie kam es dazu?

Susan Neiman und ich kennen uns schon lange. Sie war eine ausgezeichnete Philosophie-Studentin in Harvard, wo wir uns trafen. Wir hatten viele gemeinsame Interessen. Besonders was den Zusammenhang von Philosophie und Literatur anging. Jahre vergingen, aber wir haben uns immer wieder gegenseitig besucht. Und eines Tages sagte sie mir, dass Suhrkamp eine gekürzte Fassung meines Buches herausgeben wollte. Suhrkamp meinte, dass es in Deutschland nicht machbar sei, ein Buch zu veröffentlichen, das in der Übersetzung 800 Seiten hat.

Waren Sie damit einverstanden?

Ich habe eine Weile nachgedacht und sagte schließlich, „nein, das genügt mir nicht“. Ich habe 16 Jahre an dem Buch gearbeitet, das hat seinen Grund. Es tut mir weh, wenn das Buch zerstückelt wird. Susan Neiman akzeptierte das. Dann hat sie wohl ganz von sich aus Suhrkamp angesprochen und gesagt, „lassen Sie uns das zusammen machen“. Und offenbar war sie sehr überzeugend. Plötzlich hatte ich einen Vertrag in der Hand, mit dem ich das ganze Buch in Deutschland veröffentlichen konnte. Ich war begeistert! Und irgendwo in meinem Innersten spüre ich: es gehört nach Deutschland. Ich habe zu viel im Ohr, von Kant, Wittgenstein, um Gottes Willen, von Nietzsche! Von Freud! Und diese Geräusche haben mich zu irgendwelchen Überzeugungen getrieben. Ich spreche kein Deutsch, aber ich habe es im Ohr.

Viele Philosophen sind der Meinung, Philosophie sei eine Art Unwohlsein und Rastlosigkeit. Worum geht es für Sie in der Philosophie?

Bei der Philosophie Unsicherheit zu verspüren, ist schon Philosophie. Was heißt es, Unsicherheit beim Philosophieren zu verspüren? Es heißt, Unsicherheit über sich selbst zu verspüren. Es heißt, Unsicherheit bei allem zu verspüren, das man sagt, und bei allem, das man verschweigt. Bei jedem Gedanken, den man ausspricht, fragt man sich, warum man das jetzt gesagt hat. Was man damit meinte. Das sind Fragen, die Unsicherheit auslösen. Wenn ich etwas dazu sagen müsste, würde ich sagen, dass es in der Philosophie um die Tatsache geht, dass die Menschen Unsicherheit verspüren, wenn sie über sich selbst nachdenken. Woran liegt das? Hunde verspüren keine Unsicherheit über sich selbst, Engel auch nicht. Aber Menschen sind rastlos, um einen sehr wichtigen Begriff von Wittgenstein zu nennen, und sie suchen Ruhe, ohne sie zu finden.

Das ist eine schöne Antwort.

Vielleicht finden Sie die Antwort zu schön. Aber diese Antwort bedeutet mir viel.

Manche Philosophen meinen, es gehe in der Philosophie darum, Grenzen zu ziehen und Klarheit zu schaffen. Stimmen Sie dem zu?

Man kann das so sehen. Ich habe das so gelernt, als ich anfing. Es gibt vielleicht zwei große Strömungen in der Philosophie. Die eine Strömung ist dieser Meinung. Die andere meint, Philosophie sei eine Welt für sich, ob man nun in dieser Welt ist, oder nicht. Und niemand ist immer in dieser Welt. Also fangen wir schon an, zu philosophieren. Wenn man nicht immer in dieser Welt ist, wie kommt man hinein? Und wie kommt man wieder hinaus? Die beiden großen Philosophen des zwanzigsten Jahrhunderts, die Ihrem Vorschlag widersprachen, die nicht einfach Fragestellungen klären wollten, waren Wittgenstein und Heidegger. Sie sahen Philosophie als Prozess, und da komme ich her. Da habe ich meine Stimme gefunden.

Hat für Sie Philosophie auch mit der Frage nach einem gelungenen Leben zu tun?

Ja. Das kommt für mich daher, dass man das Streben der Menschen nicht unterschätzen darf, eine andere Ebene zu erreichen, ein tieferes Verstehen, einen neuen Standpunkt. Das muss man, denke ich, klar sehen. Dass es für moralische Probleme keine schnellen Lösungen gibt. Man bekommt nicht einfach so eine Antwort auf moralische Fragen, etwa, indem man eine Zeitung liest.

Das Gespräch führte Mark Minnes

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