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Landeshauptstadt: Nur eine Ohrfeige im „Lindenhotel“

Studie wertet Häftlingskartei des Stasi-Gefängnisses aus / Sponsoren gesucht

Studie wertet Häftlingskartei des Stasi-Gefängnisses aus / Sponsoren gesucht Von Dirk Becker 6698 Namen finden sich in der Häftlingskartei „F 18/C 1“ der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Potsdam. 6698 Häftlinge, knapp 1000 davon Frauen, die zwischen 1951 bis 1988 im Potsdamer Stasi-Gefängnis in der Lindenstraße 54, auch „Lindenhotel“ genannt, inhaftiert waren. Gabriele Schnell und Hans-Hermann Hertle haben diese Häftlingskartei akribisch ausgewertet und damit zum ersten Mal in der Aufarbeitung von DDR-Unrecht eine derartige Studie abgeschlossen. Gestern wurde das Manuskript „Die Häftlinge des ,Lindenhotels“ in Potsdam“ in der heutigen Gedenkstätte vorgestellt. Viele Unterlagen haben die Stasi-Mitarbeiter im Herbst 1989 vernichtet. Über die jahrelange Verwaltungsarbeit existieren nur noch „ein halber Meter Akten“, weiß Hans-Hermann Hertle, der als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Zeithistorische Forschung arbeitet. Doch in anderen Behörden haben sich Kopien der vernichteten Unterlagen erhalten, die deutlich machen, dass das „Lindenhotel“ ein „Haus des Terrors“ war. Viele der hier politisch Inhaftierten wurden „isoliert, drangsaliert und misshandelt“, so Hertle. Zu den häufigsten Deliktvorwürfen zählten Fluchthilfe und Spionage. Wobei sich an diesen beiden Deliktarten ein „vollständiger Wandel des politischen Häftlings zeigt“, wie es Hertle nennt. Zählte die Spionage in den 50er Jahren zu den Hauptvorwürfen, verschob sich dies ab den 70er Jahren hin zum Hauptvorwurf Fluchthilfe. Die meisten Inhaftierungen mit knapp 600 gab es im Jahr der Massenerhebungen 1953. Sechs Jahre später, im Zuge der Entstalinisierung, gab es mit knapp 90 die wenigsten Inhaftierungen. Gerade einmal ein Prozent der Häftlinge war wegen Delikten wie Raub, Mord oder Totschlag inhaftiert. In den meisten Fällen waren die Deliktvorwürfe nur Vehikel, um sich unbequemer Menschen zu entledigen. Glaube, Briefe, Kritik, wer eine eigene Meinung vertrat musste damit rechnen, unter fadenscheinigen Vorwürfen über Wochen bis zu Jahren inhaftiert zu werden. Heinz Schmidt musste diese Erfahrung im Jahr 1959 machen. Als Anhänger der Zeugen Jehovas gehört er zur größten geschlossenen Opfergruppe des Stasi-Terrors. Stundenlange Verhöre, auf dem Tisch als ständige Drohung eine Pistole, zählt sich Schmidt heute trotzdem zu jenen, die noch Glück hatten. „Nur eine Ohrfeige habe ich hier kassiert.“ Doch fast alle in den Zellen wussten oder ahnten, dass in den Kellern des „Lindenhotels“ viel brutalere Methoden herrschten. Neun ehemalige Häftlinge kommen in der Studie zu Wort. Heinz Schmidt gehört nicht dazu. Gabriele Schnell lernte ihn erst gestern kennen. Um die anonymen Zahlen zu durchbrechen – die Häftlingskartei stand aus Datenschutzgründen nur mit geschwärzten Namen und Geburtsdaten zur Verfügung – hat sie mit 100 ehemaligen Häftlingen Kontakt aufgenommen. Nur neun waren am Ende bereit, über ihr persönliches Schicksal zu reden. Nun hoffen die Autoren und die Gedenkstätte „Lindenstraße 54“ Sponsoren zu finden, die eine Veröffentlichung der Studie als Buch ermöglichen.

Dirk Becker

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