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IM EINSATZ FÜR DIE BOMBENENTSCHÄRFUNG: Nur fast wie am Schnürchen Wer soll das bezahlen?

Bombenentschärfung: 12 000 Potsdamer mussten ihre Häuser verlassen – wohin, sagte die Stadt ihnen nicht

Stand:

Gegen 13.30 Uhr gibt Manuel Kunzendorf Entwarnung: Die Bombe ist entschärft. Eine gute halbe Stunde hat der Sprengstoffexperte des Kampfmittelbeseitigungsdienstes gestern benötigt, um den mechanischen Aufschlagzünder aus dem braun gerosteten Fünf-Zentner-Trumm zu drehen – ganz „sachte und hochkonzentriert“. Das „Langsamarbeiten“ sei das Anstrengendste an seinem Job, so Kunzendorf. Aber eine Bombe könne er nun mal nicht angehen „wie Hektor in die Bouletten“. Jegliche Reibung hätte sie in die Luft jagen können.

Die Splitter hätten alles im Umfeld „rasiert“, glaubt Kunzendorf, der den noch immer „funktionstüchtigen“ Zünder in eine Kiste mit Sand gepackt hat, um ihn zur Munitionssammelstelle des Kampfmittelbeseitigungsdienstes in Zossen zu bringen. Als er und sein Kollege, der ihm dieses Mal geholfen hat, auch die 250-Kilogramm-Bombe gegen 14 Uhr in den kleinen Laster gehievt haben, können wieder die ersten Autos über die Nuthestraße fahren, Anwohner kehren in ihre verlassenen Häuser im Zentrum Ost und Babelsberg zurück, Angestellte zu ihren Arbeitsplätzen im eben noch abgeriegelten Sperrgebiet. Alles im Umkreis von einem Kilometer vom Bombenfundort in der Lotte-Pulewka-Straße war evakuiert worden.

Bis 9 Uhr hatten rund 12 000 Potsdamer ihre Wohnungen verlassen müssen. Gegen 8.30 Uhr zogen rund 280 Mitarbeiter der Stadtverwaltung in die zu sperrenden Stadtteile und klingelten die letzten Anwesenden aus dem Haus. Die Evakuierung habe dieses Mal „wie am Schnürchen geklappt“, findet Ordnungsbeigeordnete Elona Müller. Um 12.30 Uhr herrschte gähnende Leere auf den Straßen und Spielplätzen, in Supermärkten und Büros. Und wenn sich nicht eine ältere, verwirrte Dame so lange geweigert hätte, ihre Wohnung zu verlassen, wäre ein bis zwei Stunden früher alles geräumt gewesen, ist Müller überzeugt.

Bereits um 11.15 Uhr hatten Feuerwehr und Deutsches Rotes Kreuz rund 100 behinderte und bettlägrige Menschen in Krankentransporten zum Treffpunkt Freizeit und 14 ins Ernst von Bergmann-Klinikum gebracht. Die Stadt habe aus der ersten Evakuierung des selben Gebiets am 20. Juli dieses Jahres gelernt, sei auf die hohe Zahl an älteren Bewohnern vorbereitet gewesen.

Trotzdem äußerten gestern viele Potsdamer Kritik an der Vorgehensweise. Denn wer am Vortag keine Zeitung gelesen hatte, wusste nicht, wo das Sperrgebiet endete. Ordnungsamtsmitarbeiter hatten am Mittwoch zwar Handzettel verteilt. Doch auf diesen stand lediglich die Aufforderung, die Wohnungen zu verlassen – eine Skizze des abgeriegelten Areals fehlte ebenso wie die Adressen, wo sich die Betroffenen während der Evakuierung aufhalten können. So bleiben gestern das Bürgerhaus am Schlaatz und die Nikolaikirche am Alten Markt leer – obwohl beide Einrichtungen als Unterkunft für Betroffene geöffnet haben. In der Nikolaikirche warten vier Mitarbeiter umsonst auf die Kurzzeit-Obdachlosen. Obwohl sie extra Brötchen geschmiert und Kaffee gekocht haben.

Die Marmeladenbrote im Treffpunkt Freizeit am Neuen Garten gehen dagegen weg wie warme Semmeln. Sechs Mitarbeiterinnen der Stadt kümmern sich um die meist älteren Damen und Herren. Viele kennen sie schon vom ersten Mal. Und trotz aller Unbequemlichkeiten freuen sich die meisten, dass sie mal so „bemuttert werden“, sagt Marie-Luise Lerch vom Gesundheitsamt. Gegen Langeweile hilft „Mensch ärger Dich nicht!“ und ein Fernseher. Die 86-jährige Erika Stern, die mit ihrer Tochter am Hans-Marchwitza-Ring lebt, schreibt Wörter in ein Kreuzworträtzel. Seit ungefähr 7.30 Uhr sitzt sie schon im Foyer der Einrichtung, um 11 Uhr hat sie bereits zehn Rätsel gelöst, 15 will sie schaffen, bis die Bombe entschärft ist. Zehn Quiz-Hefte hat sie dabei und Stullen mit Schinken. Der 13-jährigen Lenné-Schülerin Melanie macht das Warten zwischen den Alten offenbar keinen Spaß. Missmutig starrt sie auf ihren Gameboy. Mit Mutter Manuela Wolff, Hund Debby und Klassenkamerad Christian wartet sie die Entschärfung ab. Sie wäre „viel lieber in der Schule“, sagt sie. Unfreiwillig schwänzen mussten auch die Schüler des Gymnasiums und der Grundschule am Humboldt-Ring. Und das, obwohl es noch Mittwoch geheißen hatte, die Grundschullehrer würden alle Kinder betreuen, deren Eltern sie nicht zu Hause behalten könnten.

Noch hat die TLG Immobilien GmbH keine Rechnung von der Stadt bekommen – weder für die Entschärfung der ersten Bombe auf der firmeneigenen Baustelle in der Lotte-Pulewka-Straße, noch für die zweite, die der Kampfmittelbeseitigungsdienst gestern unschädlich gemacht hat. Doch Geld verlangen wird die Verwaltung auf jeden Fall von dem Unternehmen: „Wir sind angehalten, die Einsätze in Rechnung zu stellen“, so Ordnungsbeigeordnete Elona Müller. Denn die Evakuierungsmaßnahme muss der Grundstückseigentümer zahlen, so Müller. Er sei der „Besitzer der Bombe“. Wegen der Entschärfung des Sprengkörpers aus dem Zweiten Weltkrieg waren gestern 280 Mitarbeiter der Stadt im Einsatz und 50 Feuerwehrleute und Polizisten, um ein Gebiet mit 12 000 Anwohnern zu sperren. Wie teuer Evakuierung und Entschärfung insgesamt waren, stehe noch nicht fest. Allerdings habe die Entschärfung der Bombe im Bergmann-Klinikum im vergangenen Jahr samt Räumung „eine sechsstellige Summe“ gekostet. Zahlen musste das städtische Krankenhaus. Die Rechnung sei laut Müller bereits beglichen. Allerdings werde die Stadt im aktuellen Fall nur Geld für den Feuerwehreinsatz und die Verkehrssicherung verlangen. Nach eigenen Angaben trage das Land die Kosten für den Einsatz von Polizei und Kampfmittelbeseitigungsdienst. Brandenburg ist mit rund 400 000 Hektar Munitionsverdachts-Flächen das am stärksten belastete Bundesland. Zwischen 14 und 15 Millionen Euro jährlich gibt es für die Munitionsbeseitigung aus. just

Juliane Wedemeyer

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