zum Hauptinhalt

Sport: Olympiagold - und dann zur Ruhe kommen

Birgit Fischer trainiert wieder und hat ein neues großes Ziel: „Es geht darum, den Bann zu brechen“

Stand:

Bollmannsruh (dapd). Westlich von Berlin, vorbei an Spandau im Westhavelland, wird die Landschaft schön - normalerweise. Heute dräuen dicke Wolkentürme über dem Brandenburger Himmel, die Welt ist in schmutziges Grau gehüllt und ein kühler Wind pfeift über den Beetzsee. Alles in allem gäbe es genug Gründe, an diesem Augusttag zuhause zu bleiben und eine Tasse Tee zu trinken. Aber um die 27-fache Kanu-Weltmeisterin Birgit Fischer am späten Vormittag auf die Couch zu treiben, braucht es schon mehr als ein paar Ungemütlichkeiten im Freien. Vor allem, wenn das erklärte Ziel eine Medaille bei Olympia 2012 in London ist.

Ein kleines Ferienlager, ein einsames Hotel und fünf Privathäuser am Ende eines Feldweges - das ist Bollmannsruh. Hier hat die achtmalige Kanu-Olympiasiegerin ihr Lager aufgeschlagen. „Das meiste hier habe ich selbst gebaut“, sagt sie und deutet auf ein einladendes Einfamilienhaus mit viel Holz. Zielstrebig durchquert sie den Garten in Richtung Seeufer. „Es hat ziemlich viel geregnet in den letzten Tagen,  deswegen steht mein halbes Grundstück unter Wasser“, entschuldigt sie sich. Tatsächlich steh das geräumige Bootshaus teilweise unter Wasser. Den Booten macht das nichts aus und auch die 49-Jährige kennt keine Scheu. Mit gekonnten Bewegungen zieht sie das ultraleichte Rennkajak aus seinem Fach neben all den Wanderkanus und wassert es.
Den schneidenden Wind scheint Fischer gar nicht zu spüren, als sie sich durchs dichte Schilf auf den offenen See schiebt. Die Wellen lassen das Kajak schaukeln, als wäre die Ausnahmeathletin auf hoher See. „Ich fahre grundsätzlich bei jedem Wetter raus. Als Schönwetterpaddlerin hätte ich wohl kaum so erfolgreich sein können, oder?“ Und ihr Erfolg ist unbestritten: Einer, Zweier oder Vierer, egal - die 500 Meter gehörten ihr.

Seit mehr als drei Jahrzehnten fährt die gebürtige Brandenburgerin jeden Morgen raus: „Die Zeit zwischen halb sechs und acht, die brauche ich einfach für mich allein. Es ist ein unbeschreibliches Gefühl, da bin nur ich, mein Boot und ein paar Vögel.“ Und was ist im Rennkajak anders? „Es ist ein bisschen wie ein Höhepunkt, vielleicht kann man es am besten mit einem Orgasmus vergleichen. Oder wie wenn man vom Tourenrad aufs Rennrad umsteigt. Die Geschwindigkeit gibt den Kick.“

Dann gibt Fischer Gas. Mit ein paar kräftigen Paddelschlägen schießt sie davon, ihre Bewegungen sehen unglaublich rund aus. Sieht so jemand aus, dessen letzter Wettkampf sechs Jahre zurückliegt? „Es ist ja nicht so, als ob ich irgendwas verlernt hätte. Wassergefühl hat man oder eben nicht“, sagt sie und relativiert gleich darauf: „Aber ich bin natürlich noch weit von meiner Wettkampfleistung entfernt. Die Mädels würden mich momentan meilenweit abhängen.“

Beweisen kann sie das natürlich nicht, auf dem Wasser ist Fischer eine Einzelgängerin. Einer Trainingsgruppe möchte sie sich nicht anschließen: „Ich mochte es noch nie, wenn mir jemand einen Trainingsplan vorgeben wollte. Ich verlasse mich lieber auf mein Bauchgefühl und meinen eigenen Kopf.“ Die Beziehung zum Deutschen Kanu-Verband ist deshalb auch eher kühl und rein professionell: „Ich will vom Verband einfach nur die Nominierungskriterien wissen, alles Weitere mach ich dann schon selber.“

Ohnehin macht Fischer fast alles selbst, das fängt schon bei den Modifikationen ihres Kajaks an. Aus mehreren kleinen Holzklötzen hat sie sich eine Art Bremssystem gebastelt, mit dem sie die Intensität der Belastung variieren kann - ähnlich wie auf einem Spinning-Rad. „So bin ich eben. Ich habe immer versucht, Sachen effizienter zu gestalten, mich zu verbessern. Das beschränkt sich nicht nur auf den Sport.“ Die 49-Jährige ist am Nordende des Sees angekommen, ihr Heim ist schon nicht mehr in Sicht. Sie dreht um, es geht jetzt gegen die Strömung, die Wellen sind noch ein Stück höher geworden: „Eine schöne Parabel auf mein Leben“, lacht sie. „Gegen die Strömung ist es schwerer, aber ich war schon immer mein eigener Herr.“

Auch deshalb will sie sich trotz des starken Gegenwindes noch einmal an Olympia versuchen: „Die Sportwissenschaft sollte sich auch mit älteren Sportlern mehr auseinandersetzen. Und manche Trainer und Funktionäre sollten mündige Sportler nicht als störend empfinden, sondern als Gewinn für ein Team sehen.“ Zuhause angekommen zieht Fischer ihr Boot aufs satte Bollmannsruher Gras und schaut nachdenklich noch einmal auf den aufgewühlten See hinaus: „Es geht darum, den Bann zu brechen. Wenn ich nicht mehr mit den Besten im Kajak mithalten kann, habe ich meine sportlichen Leistungsgrenzen erreicht. Dann komme ich bestimmt zur Ruhe und kann ohne offene Fragen und völlig gelassen auf eine sehr lange und erfolgreiche Zeit zurückschauen.“

Nächstes Jahr wird sich zeigen, ob der Bann gebrochen wird. Ein erstes Rennen hat Fischer schon gewonnen, wenn auch nur bei einem Drachenbootrennen in Potsdam. Das war am Sonntag, der Himmel war grau und der Wind pfiff über die Strecke. Fischer war das egal, sie ist ja schließlich keine Schönwetterpaddlerin.

Julian Vetten

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })