
© Andreas Klaer
Landeshauptstadt: Orientierungslos in der Straßenbahn
ViP–Mitarbeiter testeten auf einer Sonderfahrt, wie unübersichtlich Straßenbahnen für Sehbehinderte sind
Stand:
Steffen Zieschank setzt sich eine Brille auf und läuft mit ausgestreckten Armen in Richtung Türbereich der Tram. Eigentlich steht die Tür offen – doch just in diesem Moment schnappt sie wieder zu. Er kann gerade noch seinen Kopf zurückziehen. „Es ist schrecklich“, beschreibt der seit fünf Jahren bei den Potsdamer ViP-Verkehrsbetrieben angestellte Fahrer Steffen Zieschank die Situation. „Der Verlust des Augenlichts ist für mich das Allerschlimmste – das bestätigt sich gerade wieder in diesem Moment.“
Beim Besteigen der Bahn geht das orientierungslose Verhalten weiter, nur langsam und mithilfe seiner Kollegen, die ihm belustigt zurufen „links, weiter links, warm, wärmer“, schafft er es nach einer Weile endlich, sich hinzusetzen. Im realen Fahrgastbetrieb wäre die Tram schon längst angefahren und das Durchkommen durch die Menschenmenge wäre um einiges schwieriger gewesen.
20 Mitarbeiter der Verkehrsbetriebe erlebten am Montag auf einer einstündigen Sonderfahrt die Situation sehbehinderter Fahrgäste. Ausgerüstet mit einer Spezialbrille, die eine Sehstärke von weniger als 10 Prozent simuliert, wurde das ViP-Personal von einer sehbehinderten und einer blinden Frau beim Erleben dieser Situation unterstützt. Sie schilderten während der Fahrt Probleme, mit denen sie täglich konfrontiert sind. Besonders wichtig für Sehbehinderte seien ausreichend Licht in den Bahnen, kontrastreiche Sitzplätze, Haltestangen, Anforderungsknöpfe, Anzeigetafeln und Außenansagen, so die blinde Stefanie Seidel vom Sozialwerk Potsdam, der Beratungsstelle für Blinde und Sehbehinderte.
Doch die neuen niederflurigen Bahnen, also die aktuell 17 eingesetzten Combino-Bahnen und die bis 2014 bereitgestellten 18 Vario-Bahnen werden diesen Ansprüchen nicht gerecht: „In den alten Tatrabahnen war es übersichtlicher – in den neuen Bahnen sind auch noch die Sitze in mehrere Richtungen ausgerichtet“, beschwert sich Elisabeth Höpner, Mitarbeiterin der Potsdamer Christoffel-Blindenmission. „In den neuen Bahnen besteht das Problem der völligen Orientierungslosigkeit, es ist alles in dunklen, graublauen Tönen gehalten“. Höpner und Fahrer Zieschank wundern sich, wieso nicht schon bei der Bestellung der neuen Bahnen auf die Belange sehbehinderter Menschen geachtet wurde.
Dagegen verteidigt ViP-Geschäftsführer Martin Grießner den Kauf: „Das ist immer ein Abwägen der Bedürfnisse verschiedener Fahrgastverbände – die neuen niederflurigen Bahnen haben Vorteile für mobilitätseingeschränkte Menschen“. Bereits bei größeren Anschaffungen seien alle Fahrgastverbände eingeladen, ihre Wünsche an die neuen Fahrzeuge zu äußern. „Die perfekte Lösung gibt es einfach nicht, nur Kompromisse“.
Bei der Sonderveranstaltung, die von der Christoffel-Blindenmission, dem Sozialwerk und Pro Retina, einem weiteren Verband für sehbehinderte Menschen, initiiert wurde, ging es neben der Sensibilisierung des ViP-Personals dann auch hauptsächlich um die Suche nach gemeinsamen Lösungen. Die Liste der Verbesserungen mutet recht lang an, wenn Seidel von ihren täglichen Fahrerlebnissen und den damit verbundenen Problemen berichtet. Die Lichtsituation und die Verstärkung der Kontraste solle sofort verbessert werden, so die Forderung der Verbände. Eine Außenansage, die in anderen Städten bestehe, sei auch zwingend notwendig, denn „man wisse an Doppelhaltestellen nicht, welche Bahn einfährt“. Und auch vor Knotenpunkten solle per Durchsage nicht nur die Haltestelle, sondern auch das Endziel angesagt werden – so habe man noch die Chance umzusteigen, falls man in der falschen Bahn sitze.
Das Nachrüsten hat laut Grießner jedoch seinen Preis: „Allein eine kontrastreiche Fahrgastinformationstafel kostet bis zu 25 000 Euro.“ Für eine Haltestelle werden mindestens zwei davon benötigt. Die möglichen Gesamtkosten möchte Grießner erst gar nicht schätzen. Gelbe Markierungen an Haltestangen habe man in den Bahnen schon nachträglich angebracht. Realistisch sei zudem, den Ansagentext um die Richtung zu erweitern und zu prüfen, welcher Aufwand mit sprechenden Haltestellen verbunden sei. Sofortige Wirkung setzt vermutlich schon bei den Fahrern ein, die nun einen neuen Blick auf die Dinge haben. Fahrer Zieschank sagt, auch unter Fahrplandruck lässt er sich nun Zeit, öffnet automatisch die Türen und will noch achtsamer sein.
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: