zum Hauptinhalt

SAMSTAGScocktail: P wie Phantom

Potsdam ist nicht Paris. Aber kaum bin ich in der Breiten Straße unterwegs, kommt mir Charles Baudelaire in den Sinn.

Stand:

Potsdam ist nicht Paris. Aber kaum bin ich in der Breiten Straße unterwegs, kommt mir Charles Baudelaire in den Sinn. Der vor 150 Jahren in einem Anfall wütender Melancholie dichtete: Die Gestalt einer Stadt wechselt rascher, ach! als das Herz eines Sterblichen Damals wurde sein geliebtes verwinkelt-romantisches Paris gerade abgerissen und stattdessen eine saubere, geometrische Stadt gebaut – absurderweise natürlich genau die Stadt, die alle Welt, ich eingeschlossen, heutzutage so liebt. Seitdem ich Paris kenne, hat sich da kaum was verändert. Was etwas Beruhigendes hat. Das habe ich begriffen, seitdem meine Heimatstadt sich beinahe schon wie unter Zwang in ihr eigenes historisches Kulissenbild zurückzuverwandeln beginnt. Jetzt bin ich Baudelaire. Mit dem Unterschied, dass in meinem Fall all das verschwindet, was vor drei, vier Jahrzehnten noch als modern galt, damit an diesere Stelle wieder die Phantome einer Märchenarchitektur auferstehen können, Schlösser, Kirchen, Kanäle

Vor einer Weile war ich im Kloster Wienhausen in Niedersachsen. Wie sich herausstellte, war die Vorsteherin, Frau B., in Potsdam aufgewachsen, in der Breiten Straße, die zu meiner Zeit – ja: zu meiner Zeit! – noch Wilhelm-Külz-Straße hieß. Beim Abschied rief sie mir nach: Und grüßen Sie mir mein Potsdam! Seltsam, dachte ich, als ich drei Stunden später wieder die Kräne über dem Schlossrohbau schweben sah, dass ich tatsächlich bald wieder Frau B.s Potsdam grüßen kann und dafür meins verschwindet Hoffentlich wird es dereinst, wie es so schön heißt, auch genug Postkarten von meiner Zeit geben, die ja immer mehr zu einer Intermezzo-Zeit wird, damit ich meinem Kind die Sache erklären kann. Und mir fiel ein, dass ich früher unbedingt in eines der Hochhäuser an der Havelbucht ziehen wollte, die damals soviel wie Zukunft oder eine Zukunft in Frieden für mich bedeutet hatten. Diese Art kindliche Schwärmerei hat sich später natürlich aufgelöst, sozusagen über Nacht. Später, als ich wie alle Welt in einen Altbau ziehen wollte, am besten in einen in Paris. Was ich ja auch getan habe. Immer mit dem Vorsatz, nie mehr wiederzukommen, obwohl ich dann doch jedes Mal zurückgekommen bin. Natürlich verändert, was mich wütend und melancholisch wie Baudelaire macht. Dieses vollkommen fehlende Talent zur Beständigkeit bei uns beiden, der Stadt und mir!

Unsere Autorin lebt in Potsdam. Zuletzt erschien von ihr der Roman „Mit der Geschwindigkeit des Sommers“.

Julia Schoch

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })