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Von Juliane Wedemeyer: Papas Tiger zählen

Alexander und Samira reisen mit einem Zirkus, lernen müssen sie trotzdem

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Eins plus eins ist zwei. Das weiß Alexander schon. Eins plus eins, das trifft auch auf die Anzahl der Schüler an seiner Schule zu. Das sind er und Samira, die Tochter der Lehrerin. Ihr Hund Grisu zählt ja nicht, auch wenn er beim Unterricht oft dabei ist. Ungewöhnlich klein ist die Schule. Fünf Meter lang und zweieinhalb Meter breit. Alexander geht in einem Wohnwagen zur Schule. Jetzt steht der Wagen eine Woche lang im Bornstedter Feld, hinter dem Zirkuszelt, direkt am Volkspark. „Zirkusschule Probst“ hat Samira in bunten Buchstaben an die Heckscheibe geschrieben. Alexander muss das Schreiben und Rechnen erst lernen. Er ist sechs Jahre alt, Samira schon neun.

Alexanders Vater, Rüdiger Probst, bändigt die Tiger und seine Mutter Christina Clasen ist die Chefin im Zirkus-Imbiss. Alexander, der Erstklässler, hat schon dreimal seit Schulbeginn im September die Klasse gewechselt. Eingeschult wurde er am Heimatort der Zirkusfamilie im sachsen-anhaltinischen Stassfurt. Als der Zirkus seiner Eltern in Schwedt und Frankfurt (Oder) Station machte, ging er dort zur Schule – jeweils eine Woche. So wäre es weitergegangen. Woche für Woche. Neun Monate reist der Zirkus Probst jedes Jahr durchs Land. Alexanders Eltern wollten ihrem Kind den ständigen Schulwechsel nicht mehr zumuten und suchten im Internet einen Lehrer.

Und weil Daniela Danner schon oft darüber nachgedacht hat, wie es wäre, an einem Zirkus zu unterrichten, meldete sich die 31-Jährige bei Probstens. Sie hat gerade ihr erstes Staatsexamen gemacht und muss noch ihr Referendariat absolvieren. Bis Tournee-Ende am 30. November wird sie Zirkuslehrerin sein – für 1300 Euro Brutto im Monat. Und ihre Tochter Zirkusschülerin. Die Lehrer von Samira, zu Hause in Bad Gandersheim, hätten keine Einwände gehabt.

Familie Probst kaufte ihr schnell noch einen Wohnwagen für die Tournee. Nichts Besonderes: Außen ist er weiß, innen hängen hölzerne Einbauschränke. Auf der einen Seite befindet sich das Doppelbett, in dem Daniela Danner und Samira schlafen, das Waschbecken und die Klokabine, die gleichzeitig als Dusche dient. Am anderen Ende schmiegt sich die Eckbank mit den blauen Sitzbezügen an die Wand. Auf dem Tisch davor hat letzte Nacht noch Samiras Vater geschlafen, der seine Tochter gerade in den Herbstferien besucht. „Den Tisch kann man als Bett umbauen“, erklärt Daniela Danner. Tagsüber lernt sie dann mit ihren Schülern daran.

Das Leben im Wohnwagen kennt Daniela Danner, sie hat während ihres Studiums in Göttingen auf einer Wagenburg gelebt. Und auch mit Tochter hat sie ihren Wohnstil nicht geändert, allerdings ist ein zweiter Wohnwagen dazu gekommen. Neu für Daniela Danner ist aber, dass ihr Heim auch ihr Arbeitsplatz ist. Jeden Morgen wirft sie schnell die blaue Tagesdecke übers Bett, stellt das Frühstücksgeschirr in die Spüle und klappt die bewegliche Arbeitsplatte darüber: Fertig ist die Schule.

Um 8 Uhr beginnt die erste Stunde. Montags hat Alexander zuerst Sport und dann Musik, nach der Pause um 9.45 Uhr zwei Stunden „Freie Arbeit“. Dabei kann er sich aussuchen, was er machen möchte. Meistens möchte Alexander dann malen oder basteln. „Das ist ganz untypisch für Jungs in diesem Alter. Aber weil es hier keine anderen Jungen gibt, muss er sich auch nicht anpassen“, erklärt Daniela Danner.

Sie öffnet einen der Einbauschränke und stellt Schachteln und Becher auf den Tisch: Darin stapeln sich bunte Stäbchen, Kastanien, Streichhölzer und Schneckenhäuser. „Damit lernt Alexander rechnen“, sagt Daniela Danner. Arbeitsmaterialien kann sich der Zirkus nicht leisten. In dieser Hinsicht sei das Zirkusleben schon anders als sie es sich vorgestellt hatte. „Hier jonglieren nicht in jeder Ecke Leute fröhlich herum“, sagt sie. Das Zirkusleben sei für die meisten sehr hart, ein Existenzkampf. Daniela Danner bastelt sich die Arbeitsmaterialien für den Unterricht darum einfach selbst.

Oder sie nimmt das, was der Zirkus sowieso zur Genüge hat: Alexander soll alle Tiere zählen, auch Papas Tiger. Mit den Pferden hat er begonnen. Das Problem: Der Zirkus hat 21 und Alexander kann nur bis zehn zählen. „Ich habe ihn einfach losgeschickt, das Problem musste er alleine lösen“, erklärt Daniela Danner. Also marschierte Alexander zwischen den vielen Wohnwagen hindurch zu den Ställen und zählte die Pferde je nach Farbe: „Vier sind gepunktet, vier gescheckt, vier schwarz, acht braun und eins weiß“, sagt er. Das ist Unterricht zum Anfassen. Und Samira? Sie vermisst zwar ihre besten Freundinnen Tülin und Alima, aber dafür kann sie jeden Tag in den Zirkus gehen. Und nach den Vorstellungen darf sie immer auf einem Pferd in den Stall reiten.

Probsts haben Daniela Danner auch schon gefragt, ob sie ihren Sohn nach der Winterpause weiter unterrichten will. Daniela Danner ist sich noch unschlüssig. Das Zirkusleben ist eben auch hart.

Juliane Wedemeyer

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