Landeshauptstadt: Per Obstleiter über die Mauer
Am 15. Juni 1971 gelang dem Stadtverordneten und BNN-Redakteur Helmut Schimpfermann die Flucht
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In der Nacht des 15. Juni 1971 machte die Grenzstreife in der Klein-Glienicker Waldrandstraße eine alarmierende Entdeckung: An der Betonmauer, die den Potsdamer Ortsteil gegen West-Berlin abriegelte, lehnte eine lange Obstleiter. Sofort setzten hektische Ermittlungen ein. Bald hatten die Grenzer herausgefunden, dass die nahe gelegene Wohnung der vierköpfigen Familie Schimpfermann verlassen schien. Wenig später klingelte die Staatssicherheit an den Tür des Bruders von Brigitte Schimpfermann. Er wurde einem hochnotpeinlichen Verhör unterzogen, das ihn „an die schlimmsten Zeiten der deutschen Geschichte“ erinnerte, aber er wusste von nichts. Im Morgengrauen stand fest: Der Familie war der „Grenzdurchbruch“ gelungen, wie es offiziell hieß.
Solch eine erfolgreiche Flucht stellte für die Grenztruppen eine schwere Niederlage dar. Besonders an diesem Tag, denn am 15. Juni 1971 begann der VIII. Parteitag der SED, auf dem der im April an die Macht gekommene Generalsekretär Erich Honecker die „bessere Befriedigung der materiellen und kulturellen Bedürfnisse der Werktätigen“ zur „Hauptaufgabe des Fünfjahrplans 1971 - 1975“ erklärte. Der 1. Sekretär der SED-Kreisleitung zitierte den NDPD-Kreissekretär zu sich und warf ihm vor, die Republikflucht sei „der Beitrag der Potsdamer Nationaldemokraten zum VIII. Parteitag“. Doch wie gelang es Helmut-Henning und Brigitte Schimpfermann, noch dazu mit ihren beiden, erst zweieinhalb Jahre und sechs Monate alten Söhnen, die Sperren zu überwinden? Der erste, knapp mannshohe Metallzaun sei kein Problem gewesen, erinnert sich Brigitte Schimpfermann. Dahinter ragte die 2,50 Meter hohe Betonmauer auf, auf die zusätzlich ebenfalls ein Metallgitterzaun gesetzt war. Die Leiter half Helmut Schimpfermann, das Hindernis zu übersteigen. Auf der anderen Seite fand er auf einer Querstrebe Halt, seine Frau reichte die Kinder hinüber. Auch den Sprung auf den Boden überstanden sie unbeschadet. Von einer Telefonsäule auf der West-Berliner Wannseestraße alarmierte die Familie über Notruf die Polizei, die sie nach wenigen Minuten abholte.
Die Umstände waren günstig in dieser Nacht. Es regnete in Strömen, die Motorradstreifen der Grenzer fuhren nicht und die zu „Jeeps“ umgebauten Trabis seltener als sonst. Zudem war ein Teil der grellen Beleuchtung des Grenzstreifens ausgefallen. Von einer Nachbarin „entwendeten“ die Flüchtenden eine Obstleiter, die entgegen der Vorschrift nicht angekettet war. „Dennoch hatten wir eine Menge Glück, dass wir nicht entdeckt, festgenommen oder sogar erschossen wurden“, blickt der heute 61-Jährige zurück. Die Schimpfermanns betrachteten die gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR kritisch, sie fühlten sich eingeengt und eingesperrt. Im Grenzgebiet wohnend durften sie nur selten und nur von nahen Verwandten Besuch empfangen, der dazu einen polizeilichen Passierschein brauchte. Täglich hatten sie die Mauer vor Augen. „Dennoch haben wir unsere Flucht nicht langfristig vorbereitet, sondern in einer Art Husarenstreich die günstigen Umstände genutzt“, erinnert sich Helmut Schimpfermann. „Nachmittags hatte ich im Konsum noch Kartoffeln fürs Wochenende eingekauft.“
Die Flucht löste politisch in Potsdam ein lokales Erdbeben aus, denn Helmut-Henning Schimpfermann war nicht irgendwer, sondern Stadtverordneter der National-Demokratischen Partei Deutschlands (NDPD). Beruflich war der gebürtige Leipziger nach Abitur, Schriftsetzerlehre und Wehrdienst als angehender Redakteur bei den Brandenburgischen Neuesten Nachrichten – Vorgänger der Potsdamer Neuesten Nachrichten – tätig.
Am 16. Juni 1971 stürzte deren stellvertretende Chefredakteurin mit dem Ausruf „Es ist etwa Furchtbares geschehen“ ins Sekretariat. Die Belegschaft wurde mit einer Ausnahme zusammengerufen und von zwei Stasi-Offizieren über die „Republikflucht“ informiert. Dabei sparten sie nicht mit Kritik an der „mangelhaften ideologischen Erziehungsarbeit“ in der Redaktion. Die Ausnahme bildete ein Redakteur, der Schimpfermanns Mentor und mit ihm befreundet war. Er wurde gesondert vernommen, wusste aber ebenfalls von nichts. Die Stasi bespitzelte ihn dennoch weiter und kontrollierte seinen Briefwechsel. „H. steht seit dem 19.10.71 unter OPK (Operative Personenkontrolle), mit dem Ziel der Herausarbeitung des Charakters der Verbindung zu SCHIMPFERMANN, der Aufklärung weiterer Westverbindungen des H. und der Verhinderung des Wirksamwerdens des Sch. im Bereich seiner letzten Arbeitsstelle“, heißt es dazu in einem Protokoll vom 21. Oktober 1971.
Helmut-Henning Schimpfermann ging in seiner neuen Heimat einen erfolgreichen Weg. Er wurde vom „Hanauer Anzeiger“, einem der größten Regionalblätter in Hessen, als Redakteur angestellt und ist dort im Lauf der Jahre zum Chef vom Dienst aufgestiegen. Auch mit einem Buch über die historische Gaststättenlandschaft seiner Geburtsstadt Leipzig, „Wirtliches an der Pleiße“, ist er hervorgetreten. Regelmäßig besuchen die Schimpfermanns ihre Potsdamer Verwandtschaft. 1971 hatten sie die Presse gebeten, nicht über ihre Flucht zu berichten. „Jetzt aber erscheint uns das ganz spannend und nützlich“, gaben den ihr Einverständnis zu dieser Veröffentlichung.
Erhart Hohenstein
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