zum Hauptinhalt

Die Macht der Masse: Pflastersteine verankern

Am Einstein Forum diskutierten Experten über emotionalisierte Menschenmassen und wie man sie zur Ruhe bringen kann.

Stand:

Beim Papst würden die gleichen Regeln gelten wie bei Neonazis – zumindest im Hinblick auf die Organisation des Versammlungsablaufes. Der ehemalige Berliner Innensenator Erhart Körting (SPD) war bis 2011 oberster Chef der Berliner Polizei. Er musste für den reibungslosen Ablauf von Sportveranstaltungen im Berliner Olympiastadion sorgen und organisierte den Polizeieinsatzes am 1. Mai in Kreuzberg. Körting sprach auf einem Symposium über Menschenmassen in Bewegung und von Emotionen bewegte Menschen, das Ende vergangener Woche im Einstein Forum stattfand.

Von Massenversammlungen bei öffentlichen Hinrichtungen im 19. Jahrhundert bis zum protestantischen Kirchentag spannten die Veranstalter den Bogen. Dem Thema Emotionen bei Massenversammlungen und deren Steuerung sei bisher vergleichsweise wenig Beachtung geschenkt worden, konstatiert Mischa Gabowitsch vom Einstein Forum. Zusammen mit Rüdiger Zill hatte er das Symposium organisiert. Nicht erst die Nationalsozialisten mit ihren Fackelumzügen und Lichtdomen hätten den Wert geschickt inszenierter Massenemotionen erkannt. Schon in der Antike, im Kolosseum in Rom, sei den Organisatoren klar gewesen, dass die hochgepeitschten Gefühle in Kanäle gelenkt werden mussten, die für die Obrigkeit überschaubar waren, bemerkt Körting. Wenn Raubtiere Menschen zerrissen hatten, galt es, die emotionalisierten Schaulustigen möglichst konfliktfrei vom Ort des Gemetzels fortzulenken. „Das gelang bestens. In weniger als einer Stunde war das Kolosseum geleert“, weiß der ehemalige Innensenator. Ähnlich intelligent geplant sei das Berliner Olympiastadion. Auch dort sei eine geschickte, unauffällige Lenkung möglich: „Der Zuschauer nimmt das nicht wahr.“ Eine Polizeitruppe, die sich in Kleidung und Stil beispielsweise der Hooliganszene bei Fußballspielen anpasse, könne unmittelbar in der Menge agieren.

Körtings Glanzstück jedoch war die Neuorganisation des Polizeieinsatzes am 1. Mai in Kreuzberg. Wo jahrzehntelang traditionell Geschäfte geplündert und Autos in Brand gesteckt worden waren, schaffte der Innensenator es, die Randale erheblich einzuschränken. Anfangs wurde er für seine Strategie von der Opposition angefeindet. Schließlich musste auch die CDU zugeben, dass nicht martialisches Säbelrasseln, sondern eine intelligente Lenkungsstrategie zur Befriedung von gewaltbereiten Demonstranten führt. „Die Polizei zeigt ihre Präsenz nicht mehr so offen wie früher“, schildert Körting den neuen Ansatz der Polizeitaktik. Zwar seien immer noch Tausende Polizisten aus Berlin und anderen Bundesländern am 1. Mai im Einsatz. Aber die Polizei bemühe sich eher als Dialogpartner denn als mit Schildern und Knüppeln ausgestatteter Ordnungshüter zu erscheinen. „Wir bilden keinen Korridor mehr, durch den die Demonstranten laufen müssen. Die großen Polizeieinheiten warten einsatzbereit auf Schulhöfen und nicht unmittelbar neben dem Demonstrationszug“, so Körting.

Pflastersteine, die Demonstranten gerne im Vorfeld der Demonstration zum späteren Einsatz aus Bürgersteigen gelockert hätten, würden Beamte wieder sicher verankern. Diese Taktik sei erfolgreich. In den vergangenen Jahren seien Demonstranten häufig unaufgefordert zur Seite gegangen und hätten Polizisten zu dem Steinewerfer in der Menge durchgelassen, der dann verhaftet worden sei. Auch sei er, Körting, persönlich auf die Demonstranten zugegangen und habe mit ihnen geredet. Was nicht immer besonders spaßig gewesen sei. „Solange er brüllt, schlägt er nicht“, habe er sich beim Dialog mit der Gegenseite gelegentlich gedacht. Als Ergänzung zu polizeitaktischen Maßnahmen finde nun auch jedes Jahr in Kreuzberg das „Myfest“ statt, um ein Gegengewicht zur „revolutionären 1. Mai-Demonstration“ zu setzen. Das wichtigste Werkzeug der Polizei sei allerdings noch immer die Sprache, so Körting. Er hält die Demonstrationsfreiheit in der Demokratie für ein hohes Gut, das so lange geschützt werden müsse, bis Rechtsbrüche begangen würden. Dies gelte uneingeschränkt, auch wenn das Bundesverfassungsgericht gelegentlich „bis zur Ekelgrenze großzügig“ bei der Genehmigung von Demonstrationen sei.

Aus einer anderen Perspektive hat der Berliner Schriftsteller Bruno Preisendörfer 1978 einen Polizeieinsatz in Frankfurt am Main erlebt. Bei einer Anti-Nazi-Demonstration habe die Polizei eher knapp die Auflösung des Protestzuges gefordert. Dann sei sie unmittelbar dazu übergegangen, die Demonstranten mit Schlagstöcken und Schildern zu bearbeiten. „Das waren Schläge auf Menschenfleisch, nicht auf ein Individuum“, schildert Preisendörfer. Wut und Tränen habe das damalige Vorgehen der Polizei bei ihm provoziert. Da habe er auch zum Pflasterstein gegriffen: „Wegen der Demütigung.“ Richard Rabensaat

Richard Rabensaat

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })