Landeshauptstadt: Plan B fürs Schicksal
Das Stück „Scratch“ im T-Werk versucht Jugendprobleme auf die Bühne zu holen – mit unterschiedlichem Erfolg
Stand:
Gleich nach dem Ende des Stücks auf der Theaterbühne artikuliert Esther ihre Probleme mit dem Gesehenen. „Die Dialoge waren viel zu übertrieben“, raunt sie ihrem Nebenmann zu. Gerade hat sie zusammen mit rund 50 anderen Schülern des Potsdamer Oberstufenzentrums II „Scratch“ im T-Werk in der Schiffbauergasse gesehen. Altersschnitt: Etwa 17, 18. Bei der anschließenden Diskussion mit Regisseurin Yasmina Ouakidi ist Esthers Kritik denn auch recht deutlich: Das Stück fühle sich für sie unrealistisch an, am Leben vorbei, sie habe sich in den Figuren nicht wiedergefunden: „In meinem Bekanntenkreis sprechen alle anders, viele Dialoge wirken so – auch wegen den vielen Anglizismen –, als würden Erwachsene versuchen wie Jugendliche zu reden.“ Und Berlin, die Stadt, in der „Scratch“ spielt, sei zu negativ dargestellt.
Regisseurin Ouakidi blickt sie offen und ruhig an. Sie hat vor den Schülern Platz genommen. Erklärungsversuche. „Es geht dem Stück nicht um eine 1:1-Umsetzung von Realität.“ Wie auch: Denn freilich wirkt die Story von „Scratch“ deutlich zugespitzt. Am Anfang sind Frank (Sascha Diestelmann) und Tamla (Denise Ilktac). Beide treffen sich zufällig nachts an einem Bahnsteig, irgendwo in der Nähe von Berlin-Marzahn. Die letzte S-Bahn ist weg. Beide verbindet mit der Hauptstadt ein Wort: Hoffnung. Frank will zum gefragten Szene-DJ aufsteigen. In der westfälischen Provinz, aus der er kommt, hat er immer von Berlin geträumt. Tamla dagegen ist Weltenbummlerin – und sucht in ihrer Geburtstadt doch wieder die „alte Heimat“. Auf dem Bahnsteig lernen sie sich kennen, werden ein Paar – und trennen sich nach drei Wochen wieder. Ab da funktioniert „Scratch“ als Parallelgeschichte: Tamla und Frank treffen immer wieder auf einen seltsamen Mann aus dem Nichts (Henna Lindemann), der ihnen Angebote macht. Tamla wird von ihm – da spielt er einen Werbeprofi – für eine iPod-Werbung gecastet, wird zum Star, spielt bald in einer Soap mit. Frank kann ihren Aufstieg nur an Fernsehschirmen in Elektronik-Märkten verfolgen: Denn er selbst ist pleite. Der Mann aus dem Nichts – hier als Veranstalter – hat ihn als DJ angeheuert – und dafür einen Risiko-Vorschuss verlangt. Der angekündigte Mega-Rave floppt, Frank hat plötzlich 1700 Euro Schulden. Zu allem Überfluss schlägt er dem Mann aus dem Nichts – diesmal in Gestalt eines Musikmanagers – den Schädel ein, weil der ihn „Versager“ genannt hat
Anders als Esther hat Henriette das Stück erlebt, wie sie in der Diskussion danach sagt: „Gerade Theater darf Sprache als Mittel der Übertreibung nutzen“. Besonders macht sie sich Gedanken über die Figur des Manns aus dem Nichts. Was soll er darstellen? Ein Symbol für die Verführung von außen, die Verlockungen der modernen Gesellschaft, sagt Henriette schließlich: „Das war für mich auch die Grundaussage des Stücks: Man lernt durch alle Ereignisse im Leben und kennt nie den Preis für seine Entscheidungen.“ Der Mann aus dem Nichts-Darsteller Henna Lindemann nickt, vergleicht seine Rolle mit dem Begriff Schicksal: „Gerade die Geschichte von Frank zeigt, wie wichtig es ist, im Notfall einen Plan B zu haben. Außerdem will das Stück zeigen, nicht ewig auf einen Traum zu warten, sondern sich der Realität zu stellen.“ Mit dieser Erklärung scheint sich Esther schließlich zufrieden zu geben – trotz ihrer Probleme mit der „Scratch“-Sprache. H. Kramer
H. Kramer
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: