Landeshauptstadt: Potsdam-Formel entschlüsselt
Nichts ist Zufall, auch nicht die Asymmetrie des Stadtschlosses. Olaf Thiede und Jörg Wacker ergründen, warum Potsdam so aussieht wie es aussieht. Ihre These: Die Mitte Potsdams ist vom Schloss ausgehend nach dem Prinzip der Geometrie angeordnet
Stand:
Die viel gepriesene Schönheit ist kein Zufall, die Anordnung der barocken Innenstadt Potsdams entspringt einem geometrischen Muster. Eine bewusste Anordnung resultierend aus den geometrischen Grundfiguren Dreieck und Kreis, die sich in Gebäuden wie Stadtschloss, Kirchen oder verschiedenen Palais wiederfinden. Auch heute sind selbst inzwischen verbaute Spuren deutlich zu sehen, doch sie würden oft falsch interpretiert, sagen der Maler Olaf Thiede und der Gartenhistoriker Jörg Wacker. Die beiden Potsdamer rekonstruieren Linien und Achsen nach der barocken Philosophie damaliger Architektur und stellen neue Thesen der Stadtbildgestaltung auf. Dafür benutzen sie die wesentlichen Werkzeuge der Vergangenheit: Geometrie und Verstand.
Anhand von historischen Grundrissen und Stadtplänen setzen sie sich mit der Architektur des Barock zwischen 1650 und 1750 auseinander und versuchen zu ergründen, warum die Innenstadt so aussieht wie sie zum Teil heute noch aussieht. Ihre Entdeckungen: Es hat mindestens einen Konstruktionspunkt gegeben, von dem aus damalige Stadtplaner und -architekten Stadtschloss, Palais, Kirchen und Stadtplätze konzipierten. Und sie sagen, das Land sollte sich als Bauherr des neuen Landtags an Außenmaße, Fassadenstruktur, Gliederung und Höhen des knobelsdorffschen Stadtschlosses halten. Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff umhüllte bis 1751 das bestehende Ensemble zu einem konzentrierten, einheitlichen Bau und knüpfte damit an die Arbeit von Johann Moritz von Nassau-Siegen an. Der hatte nach dem Dreißigjährigen Krieg, ab 1651, Konzeptionen entwickelt, die alte Burg zu einer Schlossanlage mit Garten umzugestalten.
Das in den 1960er Jahren gesprengte Schloss stellt sich aus heutiger Sicht asymmetrisch, nicht quadratisch und teilweise mit Fenstern, die keinen Nutzen hatten, dar. So argumentieren zumindest die Befürworter eines neuen, am Bedarf orientierten Landtagsbaus auf dem Areal des früheren Stadtschlosses. Für Wacker und Thiede ist das jedoch nur der Blick auf ein Gebäude, ohne Zusammenhang des Ganzen betrachtet. Die beiden Babelsberger Nachbarn, die gemeinsam das Buch „Grün in Potsdam“ geschrieben haben, treten dem entgegen und erklären auftretende Differenzen am axialsymmetrischen Baukörper des früheren Schlosses für geschickt eingearbeitet beziehungsweise bewusst aufgenommen. Fassadenstrukturen hätten im Kontext mit dem menschlichem Maß gestanden. Wie die Architektur der Vergangenheit. Monotone Häuserfassaden gab es nicht, der Blick wurde immer von Verengungen oder verschiedenen Giebeln unterbrochen – Rhythmus und Gliederung. In Abschnitte gegliederte Alleen führten Sichtbeziehungen in die umgebende Landschaft.
Moderne Architekten und Stadtplaner haben die frühere Bauphilosophie nicht übernommen. Für Thiede und Wacker nicht ungewöhnlich, denn Technik und eine vermeintliche Moderne haben die menschlichen Maße beim Bau unnötig gemacht. Dabei hatten frühere Bauleute keinen Computer für Raumplanung, sie mussten sich auf die Geometrie verlassen. Das Muster spiegelt sich in Potsdam wieder. Als Basis galten Grundmaße in Halbierung, Dritteln und Potenz. Das Konstruktionsmaß der barocken Innenstadt könnte das Stadtschloss mit seinem Planungsquadrat von 35 Preußischen Ruten (131,82 Meter) sein. Diagonal entspräche dies 50 Ruten (188,31 Meter). Dieses Grundmaß sei überall in der Stadtplanung zu finden, ausgehend von mindestens einem Konstruktionspunkt.
Nichts deutet heute auf den vielleicht maßgeblichen Stadtpunkt hin. So unbedeutend ist der Standort kurz vor der Eisenbahn zwischen Lustgarten und Hafen inzwischen, der Einfahrt in das frühere Hafenbecken, den Thiede und Wacker als einen Ausgangspunkt der Stadtplanung festgestellt haben. Von diesem Punkt aus besitzt Potsdam einen bislang nicht entdeckten Dreistrahl. Ausgehend vom Konstruktionspunkt soll er im Winkel von je 20 Grad in die heutige Friedrich-Ebert- Straße, über das Stadtschloss hinweg und in die Berliner Straße führen. Die Kuppel der Nikolaikirche, der Mittelscheitel des früheren Stadtschlosses, und die Mitte des Neptunbeckens ergeben dabei einen Strahl.
Das Quadratmaß von 35 Ruten spielt dabei wohl die entscheidende Rolle, denn das Grundmodul des Stadtschlosses bestimmt laut Wacker und Thiede die Aufteilung des Lustgartens. Dafür quadriert Thiede die Stadt: Der Marstall war einst so groß wie zwei Drittel des Schlossquadrats. Knobelsdorff baute es genau auf die Größe eines Quadrates, der Abstand zur Garnisonkirche betrug seit dem sieben halbe Schlossquadrate. Und die Fläche eines Quadrates stellt die Größe des Luisenplatzes dar. Auch innerhalb des Schlossquadrates lässt sich die Fassadenabwicklung in fünf gleichmäßige Vorsprünge aufteilen. Die Ausmaße der Eckpavillons stehen dabei mit der Sichtachse durch die Breite Straße im Einklang, sagt Wacker. Ein Verlassen des Grundmaßes schaffe daher gesamtkompositatorische Probleme.
Und die Kirchen? Die Garnisonkirche ist doppelt so hoch wie sie lang war und auch auf die Heiligengeistkirche und die barocke St. Nikolaikirche lässt sich das Quadratmuster laut Thiede anwenden. Zudem würden die Altarräume der drei Kirchen – würden sie mit einem Lineal verbunden – auf einer Linie liegen. Im 90- Grad-Winkel dazu, aufsetzend auf die St. Nikolaikirche, ist der Altarraum der Kirche St. Peter und Paul zu finden. Es klingt alles ganz einfach, als würde die Stadt am Reißbrett entstanden sein. Geplant mit Lineal, Dreieck und Zirkel.
Doch nicht genug der Barock-Architektur, die Thiede und Wacker in Potsdam entschlüsseln. Ihrer Ansicht nach sollte für die Landeshauptstadt die barocke Philosophie und Geometrie mit der modernen Baukultur in Einklang gebracht werden. Damit überproportionierte Bauwerke wie das Potsdam-Center nicht mehr entstehen können. Jan Brunzlow
Gartenhistoriker Dr. Jörg Wacker und Maler Olaf Thiede werden anlässlich 850. Jahre Mark Brandenburg im kommenden Jahr die „Chronologie von Potsdam und Umgebung“ veröffentlichen
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: