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Mathematik für die Sinne: Prof. Thomas Jahnke führt in das Abenteuer des formalen Denkens

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Das Jahr 2008 ist in Deutschland das „Jahr der Mathematik“. Die PNN stellen in einer Serie Mathematiker vor, die in Forschung und Lehre in Potsdam tätig sind. Heute: Prof. Dr. Thomas Jahnke von der Universität Potsdam

Für den einen sind es einfach nur Fliesen, für den anderen Flächen voller Quadrate. Das versonnene Kind schaut im Badezimmer vom Boden zur Wand und wieder zurück auf den Boden. Die Fliesen hier und dort sind verschieden groß. Wie viele braucht man wohl für eine jeweils gleich große Fläche? Das Kind denkt nach und vergisst darüber den Raum und die Zeit. Gedankenlinien laufen ineinander und lassen im Kopf ein eigenes Konstrukt entstehen ...

Was ihm als Junge spielerisch gelang, die sinnliche Wahrnehmung in formales Denken zu überführen, hat sich Thomas Jahnke bewahren können. Heute ist er Professor für Mathematikdidaktik und vermittelt Studenten an der Universität Potsdam diese Lust am Gegenstand, eine Mathematik für die Sinne und das Abenteuer, den Dingen auf den Grund zu gehen. „Wenn die künftigen Lehrer selbst nicht davon ergriffen sind, können sie es später auch nicht an ihre Schüler weitergeben“, prophezeit Jahnke. Für ihn ist es gar nicht so sehr von Belang, was der Lehrer weiß, sondern auf welche Weise er das Kind zu Einsichten kommen lässt. Es ist die zentrale Frage, die ihn als Didaktiker beschäftigt: Wie schafft man Situationen, in denen die Schüler etwas entdecken können?

Jahnke selbst kennt solche Schlüsselmomente aus der Philosophie. Auf dem humanistischen Gymnasium, das er besuchte, galt Mathematik als Nebensache. Griechisch, Latein, die Geisteswissenschaften waren hier vor allem gefragt. So näherte er sich der Mathematik eher von der philosophischen Seite, über rationales Denken und kritische Reflektion.

Als er in den 60-er Jahren in Marburg sein Studium aufnahm, hatte er gar kein konkretes Ziel. „Man studierte, wozu man Lust hatte, völlig sorglos und ohne Angst, später keine Anstellung zu finden“, erinnert sich Thomas Jahnke an jene Zeit ohne Arbeitslosigkeit. Aus bildungsbürgerlicher Familie kommend, mit offenen Gedanken an die Welt, gab er sich der Zahlentheorie hin, die Carl Friedrich Gauß einst zur „Königin der Mathematik“ erhob.

Danach befragt, wozu die Zahlentheorie denn gut sei, soll der Mathematiker Edmund Landau einmal geantwortet haben: „zum Promovieren“. Genau das tat Thomas Jahnke dann auch. Er forschte über ein Primzahlenproblem. „Ein Luxus, eine Form höherer Nutzlosigkeit“, lacht er im Nachhinein, ohne den Wert seiner Arbeit zu schmälern. Entgegen der allgemeinen Tendenz, sämtliche Bildungsprozesse zu ökonomisieren, möchte er die Universität unbedingt als eine Sphäre geschützt wissen, „wo wir in Ruhe über Dinge nachdenken können“. Und manches braucht eben seine Zeit: Die früher so „nutzlose“ Zahlentheorie findet inzwischen Anwendung in der Kryptologie, ohne die es keine Verschlüsselung im elektronischen Datenverkehr gäbe, keinen Schutz von Informationen im Internet.

Für den Unterricht in der Schule ist das jedoch weniger wichtig. Der Didaktiker Jahnke findet es grundfalsch, immerfort nach dem praktischen Bezug der Mathematik zu fragen. „So wie jede Poesie eine poetische Bedeutung hat und jede Musik eine musikalische, liegt der Sinn der Mathematik eben im mathematischen, im formalen Denken.“ Die lange gehegte Hoffnung, mit anwendungsbezogenen Sachaufgaben die Lernmotivation von Schülern heben zu können, erwies sich als überhöht. Die Schüler merken schnell, dass der Text oft nur eine schöne Verpackung ist und am Ende doch wieder eine Formel dahinter steckt. Viel wichtiger sei es, so Jahnke, über das zu Grunde liegende mathematische Problem zu diskutieren und gemeinsam nach Lösungen zu suchen.

„Verstehen heißt, sich Fragen stellen“, sagt er und beklagt im selben Atemzug, dass der Matheunterricht allzu oft Antworten auf Fragen gebe, die niemand gestellt hat. „Es ist wie im Wettlauf zwischen Hase und Igel. Der Lehrer ist immer schon am Ziel.“ Jahnke aber wünscht sich, dass die Schüler eine Chance bekommen, selbst zu denken und der Lehrer mit dem arbeitet, was die Schüler ihm an Ideen anbieten. „Er darf den Weg nicht vorschreiben, muss aber die Landkarte im Kopf haben.“ Dann könne man sich auch mal verlaufen.

Falsche Schlüsse ziehen, sich irren und neu befragen – so kommt das Denken in Bewegung. Vorausgesetzt, der Unterricht lässt dafür Zeit und Muße. Im gängigen 45-Minutentakt scheint das jedoch kaum möglich. Darum fordert Jahnke die Einführung von Doppelstunden. Es kommt ihm nicht darauf an, dass die Schüler in dieser Zeit möglichst viele mess- und vergleichbare Resultate erzielen. Wichtiger als 25 Formeln virtuos handhaben zu können, sei es, einen Sachverhalt wirklich zu verstehen. Seine Studenten lässt der Professor deshalb in Klausuren mathematische Probleme gern in Worte fassen und erläutern. Ebenso, schlägt er vor, könnte man Elftklässler in einem Aufsatz entwickeln lassen, was ein Integral ist. Man könnte sie auch zunächst auf Millimeterpapier Kästchen zählen lassen, bis sie die Integralrechung als Offenbarung erkennen und die Mathematik als eine wunderbare Kulturleistung.

Für Thomas Jahnke ist die Mathematik ein Zugang zur Welt. „Sie kann die Wirklichkeit nicht präzise abbilden, aber wir können mit ihr Systeme durchschauen, Funktionsweisen verstehen, Prozesse modellieren, Dinge vorausberechnen.“ Jahnke sieht in der Mathematik die radikalste Erkenntnisform, vergleichbar nur mit der Kunst. Sich auf einen Gegenstand zu konzentrieren und alles andere auszublenden, führe im Detail zu ungeahnter Erkenntnissicherheit.

Wie viel davon mag das Kind schon gespürt haben, als es sich verlor im Gedankenspiel mit quadratischen Fliesen und dabei Raum und Zeit vergaß?

Antje Horn-Conrad

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