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Homepage: „Rebellion der Alten ist unrealistisch“

Der Soziologe Erhard Stölting über den demografischen Wandel, fehlende Kinder und leere Gegenden

2030 wird laut Statistischem Bundesamt der Anteil von über 60-Jährigen in Deutschland doppelt so hoch sein wie der Anteil der unter 20-Jährigen. Die PNN sprachen mit dem Soziologen Prof. Erhard Stölting über die Folgen des demografischen Wandels.

Herr Professor Stölting, wie alt sind Sie?

64 Jahre

und wollen mit 65 Jahren aufhören zu arbeiten?

Ich muss aufhören. Aber ich werde natürlich in anderen Formen weiter arbeiten, vor allem in der Forschung. Als Wissenschaftler hat man da mehr Möglichkeiten. Früher standen die Professoren nach einer Emeritierung weiterhin für Unterricht und Prüfungen zur Verfügung, so lange sie konnten.

Hand aufs Herz, wollen Sie in einer Gesellschaft leben, in der der Großteil ihr Alter hat oder älter ist?

Keineswegs. Ich bevorzuge Gesellschaften mit vielen Kindern und vielen jungen Menschen. Mir persönlich wäre es wohl zu langweilig, nur von Gleichaltrigen umgeben zu sein. Das Problem zeichnet sich ja jetzt schon ab. In vielen Stadtvierteln und Wohngebieten gibt es einfach zu wenig lärmende Kinder.

Das ZDF hat in einem Fernsehfilm die Überalterung bis zur Rebellion der Alten zugespitzt. Droht uns das tatsächlich?

Das Szenario ist nicht ganz realistisch. Die Politik kümmert sich vor allem um jene Sozialgruppen, die aktiv wählen. Arbeitslose etwa gehen aller Erfahrung nach seltener zur Wahl und sind in der Politik daher keine besonders wichtige Zielgruppe. Es sieht bislang aber nicht so aus, dass die Alten, die ja aus ganz unterschiedlichen sozialen und politischen Verhältnissen kommen, aufhören zu wählen.

Und wenn sich unter den Alten Arbeitslosigkeit breit macht?

Wir wissen, dass heute auch die Mittelschichten von Arbeitslosigkeit bedroht sind. Es ist aber nicht sicher, ob bei ihnen mit der Arbeitslosigkeit eine ähnliche Passivität eintritt, wie sie bei Arbeitern beobachtet wurde. Bei den Alten aus den Mittelschichten kommt in Westdeutschland hinzu, dass viele von ihnen in den 70er und 80er Jahren in einer Fülle von Bürgerinitiativen politisiert wurden. Dort lernten viele, Netzwerke zu bilden und Aktionen zu organisieren. Dieser Personenkreis lässt sich rasch mobilisieren. Und es werden dann auch Jüngere mit einbezogen. In Ostdeutschland ist das etwas schwieriger, weil hier trotz der großen Demonstrationen von 1989, die oppositionellen Initiativen, die sie organisierten, nach dem Erfolg rasch marginalisiert wurden. Hier rechne ich eher mit Resignation. Überdies werden zivilgesellschaftliche Bewegungen hier eher von den Rändern des politischen Spektrums her organisiert. All das gilt aber nur für die jüngeren Alten.

Was bedeutet es, wenn 2030 die Zahl der über 60-Jährigen doppelt so hoch sein wird wie der Anteil der unter 20-Jährigen?

Die Jüngeren werden die Älteren ernähren müssen. Die Zahl derjenigen, die von einem der Arbeitenden ernährt werden, steigt. Allerdings muss man bedenken, was das tatsächlich bedeutet. Auf die Verhältnisse von 1900 berechnet, wäre schon die heutige Situation unerträglich. Aber die Produktivität der Industrie und der Landwirtschaft ist seither enorm gestiegen. Das heißt, um alten Leuten ein angemessenes Leben zu garantieren, werden viel weniger Personen benötigt, als früher. Natürlich muss man dagegen auch die Effekte der Globalisierung sehen, die diese Produktivitätsgewinne relativieren könnten. Wenn sich das allgemeine Lebensniveau dem von Bangladesch annähert, geht es auch den Alten schlechter. Die weitere Entwicklung ist heute aber schwer abzuschätzen.

Manch einer fordert angesichts des demografischen Wandels nun sofort ein radikales Umdenken.

Das halte ich für überzogen. Zum Teil wird hier auch in den Medien eine unnötige Hysterie geschürt. Klar, wir müssen uns auf die Zukunft einrichten. Und die Politik tut sich immer recht schwer, in die Zukunft zu planen, weil sie im Vier-Jahres-Rhythmus denken muss. Aber es gibt immer auch Institutionen und Personen, die die langfristige Entwicklung im Auge haben.

Ist in dem Ungleichgewicht zwischen Alt und Jung nicht auch die Gefahr eines Generationenkonflikts angelegt?

Der müsste organisiert und geschürt werden. Gerade in Europa sind im 19. Jahrhundert und zuvor die Alten in ihren Familien oft als Last angesehen und schlecht behandelt worden. Ein gesellschaftlicher Konflikt entstand daraus nicht. Er droht auch jetzt nicht. So lange die Familien über mehrere Generationen in zusammenhängenden Netzen funktionieren, ist die Gefahr ohnehin relativ gering. Zwar führt die zunehmende Individualisierung und die Veränderung der Familienstrukturen dazu, dass die hilflosen Alten zunehmend in Pflegeheimen untergebracht werden. Sie erscheinen dann aber als Problem der Sozialsysteme und nicht als Potential eines bedrohlichen Generationenkonflikts. Ein Konfliktpotential entsteht eher bei den jüngeren noch rüstigen Alten; sie sind noch mobilisierbar.

Schon heute ist klar, dass die Älteren länger arbeiten sollen.

Ich halte diese ganze Diskussion für etwas verrückt. Man kann die über 60-Jährigen nicht alle über einen Kamm scheren. Es gibt zahlreiche Berufe, in denen mit 60 Jahren körperliche Grenzen erreicht sind, etwa bei Bauarbeitern oder Landwirten. Die kann man nicht mit Hochschuldozenten auf eine Stufe stellen, die die ganze Zeit hinterm Schreibtisch sitzen.

Bei Chirurgen oder Busfahrern dürfte auch das Risiko mit dem Alter steigen.

Sicher. Ab einem bestimmten Alter kann man nicht mehr weiterarbeiten, ohne sich und andere zu gefährden. Aber dafür müsste es entsprechende Untersuchungen geben. Ein nicht-operierender Arzt wird in den meisten Fällen auch über 65 weiter arbeiten können. Man sollte die Altersgrenzen nach Berufsgruppen und Arbeitstypen spezifizieren. Dann bekommt man auch einen ganz anderen Gerechtigkeitsdiskurs.

Eine Gruppe von Bundestagsabgeordneten strebt nun eine Verfassungsänderung an, sie wollen eine langfristige Handlungsweise festschreiben.

Das halte ich für problematisch. Wichtiger wäre, dass man einen Normenwandel herbeiführen hilft. Den kann die Politik nicht alleine erreichen. Gesetze helfen auch nichts. Wichtiger wäre es, einen allmählichen Bewusstseinswandel anzustoßen. Patentrezepte gibt es dafür nicht. Aber man kann Anreize und Anstöße geben, man kann bestimmte Diskurse fördern. Man sollte auch verhindern, dass 30-Jährige sich selbst in die Patsche reden: Auch sie werden – hoffentlich – alt.

Und die demografischen Faktoren?

Eine höhere Kinderzahl mit politischen Mitteln zu erreichen, wird nicht einfach sein. Die Franzosen haben es jetzt auf knapp über zwei Geburten pro Frau gebracht: noch vor Irland die höchste Geburtenrate in Europa. Das bedeutet nur, dass die Bevölkerung dort nicht schrumpft. Das ist ein großer Erfolg, der auf einigen sozialpolitischen Maßnahmen beruht, die die Vereinbarkeit von Beruf und Familie erhöhen – etwa die Ecole Maternelle ab dem dritten Lebensjahr, Ganztagsschulen, großzügige Kindergeldregelungen, die Verdoppelung des Mutterschaftsurlaub usw. Diese Maßnahmen haben eine positive Bevölkerungsentwicklung stimuliert. Sie haben auch eine längere Vorgeschichte und wurden nicht nach inzwischen typisch deutschem Muster eingeführt: Einfach etwas zu beschließen, es als alternativlos zu deklarieren, es durchzusetzen und dann zu warten, bis das Chaos sich von selbst legt.

Alles also ein Frage der Politik?

Der entscheidende Faktor beim Rückgang der Geburtenraten ist nicht sozialpolitisch auszugleichen. Das Ideal des universell mobilen Beschäftigten lobt die Dynamik; die meisten Kinder aber brauchen für ihre Entwicklung Stabilität und Berechenbarkeit. Wo prekäre Arbeitsverhältnisse vorherrschen, greifen auch familienfreundliche Regelungen kaum. Zudem fehlen zunehmend die solidarischen familialen Netzwerke. Und die prekären Lebensverhältnisse werden zunehmend auch für die Mittelschichten bestimmend. Die geforderte Bereitschaft zum kurzfristigen Ortswechsel, zum Wechsel der Arbeitsstelle, zu einer Lebensführung, in der guter Verdienst und Armut einander phasenweise ablösen, verträgt sich kaum mit längerfristigen persönlichen Bindungen – geschweige denn mit Kindern. Vielleicht kann das mit einem Kind noch gut gehen, mit dreien ist es ein Problem.

Wir haben es nicht nur mit einem deutschen Problem zu tun?

Im gesamten Europa ist das Alter der Erstgebärenden gestiegen. Es lag 1996 bei 27 Jahren, und war schon damals relativ hoch im Vergleich etwa mit der DDR. Heute liegt es bei 30 Jahren. Das heißt, es bleiben dann für die Erfüllung eines Kinderwunschs noch etwa zehn Jahre Zeit. Das gilt auch für Frankreich. Auch dort konzentrieren sich die meisten Geburten auf diese zehn Jahre.

Deutschland hat nun das Elterngeld eingeführt. Reicht das aus?

Ich glaube, dass diese Maßnahme nicht das Entscheidende ist. Die Frage ist doch, wie werden die Kinder versorgt, wie kann man garantieren, dass die Kinder eine gute Ausbildung bekommen und eine gute Kindheit haben. Die Tatsache, dass es weniger Kinder gibt, beruht nicht darauf, dass die Menschen keine Kinder mögen. Aber ab dem zweiten, dritten Kind sinkt der Lebensstandard. Das würden viele noch in Kauf nehmen. Aber sie sehen auch das Problem der individuellen Berufswege in prekären Arbeitsverhältnissen. Heute muss auch in den Mittelschichten fast jeder mit Armutsphasen rechnen. Und das betrifft die Frauen noch stärker als die Männer.

Wenn die Zahl der jungen Menschen in 30 Jahren zurückgeht, dann dürften auch die Geburten weiter stagnieren?

Der Schrumpfungsprozess ist dann sicherlich nicht zu Ende. Bis 2060 wird es natürlich noch weiter zurückgehen. Es sei denn, man findet Mechanismen, mit denen man die Entwicklung abbremsen oder umsteuern kann.

Auch über Einwanderung?

Das wäre eine Idee. Bestimmte Gegenden – etwa Mecklenburg Vorpommerns oder Brandenburgs – leeren sich. Vor dem Hintergrund des globalen Klimawandels, wird der Einwanderungsdruck aus dem Süden steigen. Leere Räume – und dazu schöne und fruchtbare wie hierzulande – produzieren in einer übervölkerten Welt eine entsprechende Nachfrage. Für diese künftige Situation gibt es noch keine diskutierbaren Szenarien. Sie würden auch eher Ängste provozieren. Und davon haben wir schon genug.

Das Gespräch führte Jan Kixmüller

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