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Homepage: Rehabilitierung der Illusion

Eine Tagung des Potsdamer Einstein Forums versuchte, die „Wahrheit der Illusion“ zu erforschen

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„Mit 17 hat man noch Träume, da wachsen noch alle Bäume in den Himmel der Liebe“, weiß ein Schlager aus den 60er Jahren. Der zunehmenden Desillusionierung im Erwachsenwerden hält nicht einmal die Liebe stand. Die Teilnehmer der Tagung „Wahrheit der Illusion“ im Einstein Forum hörten vor einigen Tagen der multimedialen Präsentation des Hits mit nostalgischem Schmunzeln und wissender Rebellion zu. Viele von ihnen hatten schon vor Jahrzehnten die Schwelle zur Volljährigkeit überschritten. Was konnte die damals gerade 17-jährige Peggy March schon wissen von den Illusionen des Alters.

Der Philosoph Matthias Kroß nahm den poetologischen Gehalt des Liedes ernst und exemplifizierte an ihm die Genealogie der Metapher vom Baum der Erkenntnis, der ja gerade die Früchte trägt, die Scham bewirken – und damit das Begehren. So gesehen muss Erkenntnis nicht zwingend das Gegenteil von Illusion sein, sondern kann die Bereitschaft, sich verzaubern zu lassen, noch steigern.

Auch andere Referenten bemühten sich, das Negativ-Image der Illusion als Verrat und Täuschung zu revidieren. In seinem Eröffnungsvortrag verwies der Potsdamer Soziologe Erhard Stölting darauf, dass es vor allem die unerfüllbaren politischen Visionen seien, die gesellschaftliche Bewegungen in Gang setzten. Manchmal führten zu hochgesteckte ideologische Ziele jedoch zu Stagnation und Ermüdung. Beides fand die Pädagogin Ulrike Pilarczyk in den Fotos der späten DDR aus dem staatlichen Bildarchiv. Über die Irritation, dass Bilder von gelangweilten Menschen ohne weiteres als Pressefotos frei gegeben wurden, vergaß die Referentin, sich zu fragen, was eine solche Medienpolitik über den Staat aussagt. Auch die zuvor formulierte provokante These des Rechtshistorikers Dieter Simon, dass der Rechtsstaat eine Illusion sei, die nur deshalb funktioniere, weil alle an sie glaubten, erfuhr nur geringen Widerspruch, was an der Nicht-Anwesenheit gelernter Juristen gelegen haben dürfte. Der Begriff der Illusion legt es aufgrund seiner Vieldeutigenkeit nahe, rein rhetorisch benutzt zu werden.

Versuche, das Illusionäre zu definieren, gab es dennoch. Für den Psychiater und Philosophen Kai Vogeley beginnt Illusion da, wo eine adäquate Einsicht in den Wahrheitsgehalt von Wahrnehmungen nicht mehr leistbar ist. Dass wir in einem überaus technisierten Zeitalter auch kaum mehr autonome Akteure unserer Handlungen sind, wies der Soziologe Werner Rammert nach. Eine These, die zuvor der Soziologe Jean-Claude Kaufmann bei seinem stark besuchten Abendvortrag grundierte: Die meisten menschlichen Handlungen laufen rein reflexhaft, ohne Reflektion ab. Und wenn der Mensch bewusst handelt, wird er auch noch von Normen eingeengt. Dennoch: Ohne Tagträume gebe es kaum technische und gesellschaftliche Entwicklungen. Nicht nur Biologie, auch das Imaginäre könne Produzent von Wirklichkeit sein. In potenzierter Weise und artistischer Überhöhung findet sich diese aufmunternde These auch in der Literatur. Die Hispanisten Dieter Ingenschay und Susanne Klengel führten dafür die Barockdramen des Spaniers Calderon und Werke des lateinamerikanischen magischen Realismus an, die in besonderer Weise Wunder als Realität und das Magische als Erklärung der Welt statuieren.

Am ausdrücklichsten plädierte der Philosoph Ivan Soll mit Nietzsche für eine Rehabilitierung der Illusion. Die einzige Möglichkeit, die Welt zu ertragen, sei es, sie zu transformieren. Der Einzelne müsse sich zum Poeten seines Lebens machen. Was wie eine neoliberale Forderung klingt, ist die lebensmüde Liebeserklärung eines Nihilisten an die Kunst.

Und zum Schluss der Tod. Auch er nur eine Illusion? Leider nein. Der Unerbittlichkeit des Endes setzen die Menschen phantasiereiche Illusionen über das Nachher und über den Zustand des Todes entgegen. Der rationelle Blick weiß es anders. Ein poetischer Ausdruck dieser Desillusionierung findet sich in einigen Kalendergeschichten von Johann Peter Hebel, die der Kulturwissenschaftler Thomas Macho in seinem Abschlussvortrag nutzte, um die stete Ambivalenz von Illusion und Desillusionierung auch in den letzten Dingen aufzuzeigen. Lene Zade

Lene Zade

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