Landeshauptstadt: Reife Früchte am Zuckertütenbaum
Geschichten von der Schultüte, einem Zuckertütenfürsten und Wünschen, die an Bäumen wachsen
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Im Filmpark Babelsberg wächst ein Schultütenbaum heran. Fünf Meter misst das stattliche Exemplar, das am Samstag zur Einschulung Hunderte kegelförmiger „Früchte“ tragen soll. Die allerdings reifen nicht von allein. Um ihre ganze Pracht zu entfalten, benötigen sie den Einfallsreichtum bastelfreudiger Kinder. Um 14.30 Uhr geht es los, das Babelsberger Zuckertütenfest im Filmpark, bei dem die künftigen Erstklässler im „Löwenzahn“-Garten ihren ersten Heimatkundeunterricht nehmen, sich ein gesundes Pausenbrot bereiten und mit der Verkehrswacht auf dem Grand Boulevard die „Spielregeln“ im Straßenverkehr lernen können. Radio Teddy erklärt das ABC des Radiomachens und die Babelsberger Traumwerker, die Stuckateure, Kostümschneider und Maskenbildner, zeigen, wie man die leer genaschten Zuckertüten nach dem großen Tag kreativ zweckentfremden kann. Zuvor jedoch müssen sie eigenhändig gebastelt werden – bis sich am Schultütenbaum die Zweige biegen.
Die Kultivierung dieses eigentümlichen Gewächses ist nicht neu. Überlieferungen vom Beginn des 19. Jahrhunderts kommen aus Sachsen und Thüringen. Dort erzählte man den Kindern, dass im Haus des Lehrers, im Keller oder auf dem Dachboden, ein Schultütenbaum wachse. Und wenn die Schultüten daran groß genug wären, dann wäre es auch höchste Zeit für den Schulanfang. Eine Geschichte, deren Wahrheitsgehalt der um 1850 geborene Bauernjunge Josef Merder auf den Grund gehen wollte. Während des Unterrichts schlich er sich hinaus und kroch auf allen Vieren die hohen Stufen zum Dachboden hinauf, fand dort aber nur aufgehängte Wäsche, Mehltruhen und Gerümpel. „Merkwürdigerweise erhielt ich an diesem Tage nach der Stunde vom Lehrer eine Zuckertüte, die doch wieder dem Zuckerbaum entstammen sollte“, beschreibt er in seinen Erinnerungen das große Erstaunen. Vermutlich der größeren Glaubwürdigkeit wegen richteten später viele Schulen tatsächlich einen Baum oder ein baumähnliches Gestell her, an dem die mit Rosinen, Pflaumen und Gebäck gefüllten Tüten hingen.
Fotografische Zeugnisse und Anekdoten rund um den ersten Schultag, aber auch historische Utensilien wie Griffelkasten, Schiefertafel und Fibeln zeigt ab morgen das Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte. Die Kulturhistoriker Lothar Binger und Susann Hellemann haben für die Ausstellung aus ihrer deutschlandweit einmaligen Sammlung privater Fotografien 140 Reproduktionen von 1880 bis zur Gegenwart ausgewählt. Sie dokumentieren, wie die Schuleinführung in den verschiedenen Zeiten gefeiert wurde und wie sich die Ausstattung der Erstklässler, ihre Kleidung, der Ranzen und die Schultüte, über die Jahrzehnte verändert haben.
Zu erfahren ist dort auch, dass die früheste biografische Notiz über eine Zuckertüte vom Sohn eines Ackerbürgers stammt, der 1817 in Jena eingeschult wurde: „Bei meiner Einführung in die Schule überreichte mir der Kantor eine mächtige Tüte mit Konfekt, wahrscheinlich als symbolisches Zeichen der vom Fleiße zu erwartenden Vorteile.“ Erhielten anfangs nur Kinder aus besser gestellten Familien eine aus Glanzpapier gedrehte Zuckertüte, die man beim Konditor bestellen konnte, so übernahmen nach und nach auch Eltern ärmerer Kinder diesen Brauch. Sie allerdings füllten vorwiegend nützliche Schulsachen, eine Schürze oder auch Holzpantoffeln in die Tüte. Über die Großstädte verbreitete sich die Zuckertüte im 20. Jahrhundert in ganz Deutschland. „Sie war bunt wie hundert Ansichtspostkarten, schwer wie ein Kohleeimer und reichte mir bis zur Nasenspitze“, erinnert sich Erich Kästner, der an seinem ersten Schultag stolz war „wie ein Zuckertütenfürst“. In mageren Kriegs- und Nachkriegsjahren fanden sich eher Mohrrüben und Kohlrabi in der Tüte.
Und heute? Neben Süßigkeiten stecken Eltern oft Spielzeug und Kuscheltiere hinein. Gesundheitsbewusste halten beim Naschwerk jedoch Maß. Natürlich vergessen auch sie nicht die Lieblingsleckerei ihres Kindes, nehmen aber vor allem frisches Obst, Vollkorngebäck und Studentenfutter als Füllmasse. Für die Fitness finden sich in mancher Tüte Ball und Springseil, für den Geist Bücher und Denkspiele. Mit einem Gutschein für einen Zoobesuch verlängern kluge Eltern die Freude über den Tag hinaus.
Den Grundschülern, die in diesem Sommer die Potsdamer Eisenhart-Schule verließen, blieb ein Geschenk sechs Jahre lang erhalten. Die Eltern hatten zur Schuleinführung ihre Wünsche und Hoffnungen für ihre Kinder aufgeschrieben, in Miniaturtüten gesteckt und an den im Klassenzimmer aufgestellten Zuckertütenbaum gehängt. Erst jetzt, zur Verabschiedung der Sechstklässler, durften die Tüten geöffnet werden. Ob alle Wünsche in Erfüllung gingen? Es bleibt das Geheimnis der Kinder.
Zuckertütenfest im Filmpark Babelsberg, Sa 25.8., 14.30 Uhr; Ausstellung „Von ABC-Schützen und Zuckertüten“ im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte, Eröffnung Do 23.8., 11 Uhr, Di-Fr 10-17 Uhr, Sa/So 10-18 Uhr, bis 16.9.
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