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Von Richard Rabensaat: Ritueller Kontext

Eine Publikation der Universität Potsdam zeigt, wie sich der Begriff Amok in Asien und Europa ausbreitete

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Nicht überrascht war Heiko Christians von der Aktualität, die sein Buch durch den Amoklauf von Winnenden bekommen hat. „Amok-Geschichte einer Ausbreitung“ ist der Titel der Studie. „Es ist da und es wird irgendwo auf der Welt passieren“, stellt der Potsdamer Professor für Medienkulturgeschichte in Bezug auf den Gewaltausbruch fest. Erstaunt war er dann aber doch darüber, wie schnell das Thema wieder aus den Schlagzeilen verschwand. Nicht zuletzt die Art und Weise wie die Gewalttat in den Medien Präsenz erlangt, macht Christians für das Phänomen des Amoks verantwortlich.

Es gibt einen recht ansehnlichen Berg von Literatur und Aufsatzsammlungen, die sich mit Amok befassen. Der Großteil davon schwenkt nach einem geschichtlichen Kurzabriss über zur psychologisierenden Sichtweise. Vormals Erfurt und nun Winnenden lassen Spekulationen über die vermeintliche Kälte der Industriegesellschaft und die angeblich verrohende Wirkung von Computerspielen blühen und Forderungen nach einer Verschärfung des Waffengesetzes laut werden, das zuletzt im April 2008 geändert wurde.

Heiko Christians hält dies für „unterkomme“. Er verweist darauf, dass sich bei den meisten Tätern in den gegenwärtigen westlichen Industriegesellschaften eine Vielzahl von Gründen verdichten würden, um schließlich ihren schrecklichen Ausgang zu nehmen. Dieser weist zunächst einmal wenig Ähnlichkeiten mit dem historischen Begriff des „Amoco“ auf. In venezianischen Reiseberichten aus dem 14. Jahrhundert taucht die Bezeichnung zuerst in Verbindung mit elitären soldatischen Spezialeinheiten im indonesischen und malaysischen Raum auf. Die schoren sich zunächst das Haupt, um sodann einen Kampf auszutragen, den sie von vornherein als aussichtslos einschätzten. Die wild vorwärts stürmenden Männer bezeichnet der Bericht mit dem portugiesischen Wort für Krieger Amoco.

Das Buch macht klar, dass es sich bei dem anschließenden Gemetzel um eine Schlacht handelte, deren verhängnisvoller Verlauf von vornherein geplant und absehbar war. Ähnliches kann vermutlich auch für die Taten von Erfurt und Winnenden angenommen werden. Christians zeigt jedoch, dass der soldatische Tod im indonesischen Raum der Wiederherstellung oder Aufrechterhaltung der Ehre diente und in gesellschaftliche Handlungsmuster eingebunden war. Die Taten Robert Steinhäusers oder Tim Kretschmers allerdings fallen aus jedem gesellschaftlichen Kontext heraus. „Die Isolation des Täters, die er selber definiert“, sei für die aktuellen Taten ein entscheidender Auslöser, vermutet Christians. Er führt den Begriff der „Patchworkidentitäten“ an. Dem Täter fehle ein klar definiertes Selbstbild, das dem jugendlichen Täter über Ausbildung, Lehre und Familie vermittelt werde. In seinem Kopf spukten eine Vielzahl von Rollenbildern, die im Internet oder Fernsehen auf ihn einprasseln, diese formten die Vorstellung des späteren Amok-Läufers von sich selbst.

Der rituelle Kontext des Amoklaufs schwand jedoch auch im indonesischen Raum zugunsten des Einzelphänomens. Zunächst erklärten die seefahrenden Nationen der Portugiesen und Holländer mit dem Amoklauf des Gegners nicht zuletzt Schlappen, die sie sich beim unerwarteten Widerstand gegen die Kolonialisierung einhandelten. Um 1850 jedoch definierten holländische Ärzte die Gewalttat auf Java zum psychologischen Problem, erklärt Christians. Aus der Kriegshandlung waren Einzeltaten geworden.

Was Amok denn eigentlich ist, bleibt allerdings auch heute noch häufig unklar. Auch Forschungsarbeiten gingen stillschweigend davon aus, dass der Begriff selbsterklärend sei, stellt der Psychologe Jens Hoffmann fest. Das Verdienst Christians ist es, aus einer Vielzahl von Reiseberichten heraus zu destillieren, wo sich der Begriff geformt und wie er sich verändert hat. Der Wissenschaftler schafft es, das mediale Umfeld auszuleuchten, das die aktuellen Taten umgibt und wohl auch für das Selbstverständnis der Täter entscheidend war. Er zieht geschickt eine Verbindung zwischen dem asiatischen Ausgangspunkt des Phänomens und vergleichbaren Vorfällen, wie sie sich in Europa 1524 beispielsweise mit Michael Kohlhaas oder 1913 mit dem dreizehnfachen Mörder Ernst August Wagner ereigneten. Abseits einer vorschnell psychologisierenden Beschreibung leitet der Christians den Begriff gründlich recherchiert aus seiner kulturellen Entwicklung her.

Heiko Christians, Amok-Geschichte einer Ausbreitung, Aisthesis Verlag 2008, ISBN 978-3-89528-671-1.

Richard Rabensaat

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