SAMSTAGScocktail: Rostige Liebe
Laut Paartherapeuten sind die trennungsreichsten Monate im Jahr der Dezember und Januar. Was der Dezember zu viel hat, hat der Januar zu wenig.
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Laut Paartherapeuten sind die trennungsreichsten Monate im Jahr der Dezember und Januar. Was der Dezember zu viel hat, hat der Januar zu wenig. Wer hasst ihn nicht, den Moment danach, diese Ernüchterung, wenn alles überstanden ist und nichts mehr ansteht. Der Rausch ist verflogen, der Zauber dahin. Übellaunig werden Bäume abgeschmückt, Lichterketten in Säcke gestopft, Mutzenbuden zerlegt und auf Laster verfrachtet. Ein Rest künstlichen Schnees auf dem wieder geräumten Platz, da wo die Eisbahn war, verschafft der Depression erst richtig Kontur. Überall saubergefegte Leere. Rettungswagen rasen blökend durch die kahlen Straßen. Die Zeit ist nicht danach, dass man irgendeiner Überraschung begegnen könnte.
Laut Paartherapeuten sollen müde Liebende sich mühen. Werfen Sie nicht das Handtuch, versuchen Sie den frischen Blick! Deswegen also steige ich auf mein Rad und fahre in den neuen Schlosshof, eine verlassene Zirkusarena, durch die der Wind pfeift (drei Wände, ein Ausgang), und fahre nach zwei Runden wieder heraus, deswegen also suche ich auf meiner Fahrt sinnlos nach einer unbekannten Nebenstraße wie ein Tier in seinem Käfig nach einem Notausgang, und deswegen schaue ich beim Gang durchs Treppenhaus hoch in mein Büro lange auf die alten Fotografien der Stadt, die da hängen. Unbekannte Häuserecken, unbekannte Straßenzüge. Bei den meisten gelingt es mir noch nicht mal, mir vorzustellen, wo genau der Fotograf stand. Schwertfegergasse nach Osten hin, Schwertfegergasse nach Westen hin. Posamentier u. Wollwaren steht über den Geschäften, Elektrische Licht- u. Dampf-Badeanstalt, Paul Klein ff. Confitüre, Lager von Majolika, Crystal In diesem Moment gebe ich der Vergangenheit den Vorzug, einfach weil sie anders war, fremd. Lernen Sie, das abgehalfterte Objekt Ihrer einstigen Begierde wieder wie etwas Unbekanntes zu sehen, sagen die Therapeuten. In Bukarest zeigten mir junge Chinesen einmal eine chinesische Weltkarte. In der Mitte lag Asien, den größten Raum nahm der Pazifische Ozean ein. Deutschland lag irgendwo ganz außen, am linken Rand der Karte. Der Schnitt durch den Globus ging schlicht an einer anderen Stelle durch, so einfach war das. Ich weiß noch, wie gut es sich anfühlte, verblüfft zu sein.
Unsere Autorin lebt in Potsdam. Zuletzt erschien von ihr der Roman „Selbstporträt mit Bonaparte“.
Julia Schoch
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