Landeshauptstadt: Roter Wein vom Kaiserbahnhof
Kleingärtner der Sparte „Geschwister Scholl“ entdecken ihr Talent als Winzer
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Kleingärtner der Sparte „Geschwister Scholl“ entdecken ihr Talent als Winzer Von Erhart Hohenstein Angenehm kühl sitzt es sich „Am Kaiserbahnhof“, dem Vereinslokal der Kleingartensparte „Geschwister Scholl“, in der von Wein überrankten Gitterlaube. Doch der Wein dient keineswegs nur als Schattenspender – er liefert auch einen guten Tropfen. Vor zwei Jahren hatte der Vorstand um den Vereinsvorsitzenden Roland Retzke den Einfall, die Trauben des zu stattlicher Größe herangewachsenen Rebstocks zu keltern. Das klingt wie eine Schnapsidee, war aber keine. „Wie man Traubenwein macht, davon hatten wir wenig Ahnung“, erzählt Retzke. „Uns kam aber ein altes Winzerbuch zu Hilfe, und die Gerätschaften wie Ballons, Gärröhrchen und Schwefelfäden besorgten wir uns mit einiger Mühe.“ Der rote Wein vom Kaiserbahnhof reifte heran und war von überraschendem Wohlgeschmack. Die immerhin 20 Liter, die nach der Verkostung noch in Flaschen gefüllt werden konnten, erschienen natürlich nicht auf der Getränkekarte. Sie wurden für besondere Anlässe aufbewahrt, so die im Dezember stattfindende Dankeschönveranstaltung für einsatzfreudige Gartenfreunde. 2003 ist der Wein nicht so trocken, sondern etwas lieblicher ausgefallen, Vereinswirt Harry Przybyla kann aber auch davon nur noch eine eisern bewahrte Restflasche vorzeigen. Ende Oktober steht die nächste Weinlese bevor, mal sehen, wie der Tropfen des neuen Jahrgangs wird. Der Verein dürfte weit und breit der einzige mit selbst gekeltertem Hauswein sein, für das Guinnessbuch der Rekorde hat er sich aber nicht angemeldet. Seinen Einfallsreichtum beweist er nicht nur auf dieser Strecke. So waren auch hier allerlei Fichten, Tannen und andere Waldbäume 12 Meter hoch und mehr aufgewachsen. Das den ostdeutschen Laubenpiepern übergestülpte Bundeskleingartengesetz fordert aber, warum auch immer, deren Entfernung. Nach Änderung der Baumschutzverordnung ist das jetzt zwischen 1. November und 28. Februar möglich. Eine Firma nimmt dafür je Baum schlappe 1000 Euro und mehr. Junge wagemutige Gärtner klettern in die Krone und sägen den Stamm Stück für Stück herunter, in Retzkes Sparte sind aber fast zwei Drittel der Mitglieder schon über 65. Also suchte der findige Vorstand Kontakt zu einer freiwillige Feuerwehr und bot ihr an, ihre Ausbildungseinheit „Gefahrenbäume beseitigen“ an den Kaiserbahnhof zu verlegen. Das tat die dann auch – gegen Erstattung des Aufwands. Eine Spende für die Feuerwehrkasse legte der Gartenverein noch oben auf und lud die Männer zum Essen ein. Ohne Hauswein, denn die Feuerwehrleute waren, wie man sie kennt, mit Selters zufrieden. Wer im Gartenlokal ein Bier trinkt, spürt den Gemeinschaftsgeist der Gärtnertruppe und erspart sich Fragen nach Nachbarschaftsstreit oder Einhaltung der vorgeschriebenen Beetfläche. Das hat der Vorstand um Roland Retzke, der beruflich im Landesamt zur Regelung offener Vermögensfragen ungleich schwierigere Probleme klären muss, voll im Griff. Bereits 1936 ist der Verein auf dem Gelände der ehemaligen Gärtnerei Bergemann entstanden, 1978 wurde die nicht nur bei Insidern beliebte Gaststätte Am Kaiserbahnhof in einer ehemaligen Posthalterei eröffnet. Seit die Nachwende-Bebauungspläne der Stadtverwaltung für das große Kleingartengelände in Potsdam-West vom Tisch sind, können die 115 Mitglieder ihre 69 Parzellen in Ruhe bewirtschaften. Auch zur 70-Jahr-Feier werden sie 2006 den jüngsten Jahrgang des selbst gekelterten Weins trinken.
Erhart Hohenstein
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