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Verborgene Campus-Orte: Die Gastwirtschaft „Zum Schaffner“ im Bahnhof Golm

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Verborgene Campus-Orte: Die Gastwirtschaft „Zum Schaffner“ im Bahnhof Golm Von Matthias Hassenpflug Wie mag sich ein Wirt fühlen, auf dessen Lokal sich täglich scheinbar ein Strom von Menschen ergießt, der sich jedoch kurz vor seiner Eingangstüre teilt, und kaum einer wirklich die gemütliche Gaststube betritt? Margit Walch, die seit 1995 den „Schaffner“ am Golmer Bahnhof betreibt, schaut von ihrem Platz hinter der Theke direkt auf den Universitätscampus. Die ehemalige Ankunftshalle des Bahnhofs ist gesättigt mit herzhaften Düften, die einem Gast ein Ankommen anbieten, vielleicht sogar eine Art „Heimat“. Roulade, Schweinesteak, Frikadelle – diese Art von Gastlichkeit ist ehrlich und sättigend, aber anscheinend nicht immer im Sinne der Studierenden. Die einen warten in Trauben auf den Bus vor dem Haus, die anderen hasten zum Uni-Shuttle dahinter. Aber Frau Walch klagt nicht, sie beobachtet, findet Erklärungen und macht weiter. „Ich habe alles versucht“, sagt sie, abgeklärt, aber mit einem gewissen Stolz. Dazu gehören Studentengerichte zu dem fairen Preis von drei Euro zehn, die jeder genießen kann, der an der Uni oder auf dem nahen Max-Planck-Campus tätig ist, dazu gehört die urgemütliche Kneipenausstattung mit Billardtisch, oder die Tische draußen, die im Sommer auf dem alten Bahngleis stehen. Die Studenten, sagt Frau Walch, haben immer weniger Zeit und immer weniger Geld. Wer zum „Schaffner“ geht, der lernt ein Stück von Alt-Golm kennen, wie es da liegt und umbrandet wird von Neu-Golm. Irgendwie ignoriert und nicht verstanden. Abgeschnitten. Ein junger Gast betritt den „Schaffner“, Frau Walch, die ihr großes Herz auf der Zunge trägt, sieht sofort, dass es sich um einen Fremden handelt und bietet ihm die englische Fassung der Speisekarte an. Tatsächlich, Frau Walch hat an alles gedacht. Der Nächste könnte ein Dozent sein, wenig Zeit. „Hätten sie angerufen, hätten wir Ihnen auch etwas vorbeigebracht“, bietet Frau Walch an. Nur eine Apfelschorle und ein Stück Kuchen sollen es jetzt sein. „Der Apfelkuchen ist noch ein bisschen warm“, sagt Frau Walch und klingt fast entschuldigend dabei, „aber vielleicht ist es gut so“. Andere hätten laut getönt, wie frisch und hausgebacken der Kuchen ist. Am Ende zahlt der Gast einssiebzig. Margit Walch ist über die Jahre eine gute Beobachterin geworden. Seitdem ihre Eltern mit ihrer Zwillingsschwester 1958 aus Österreich kamen, um die Dorfgaststätte „Thomas Müntzer“ zu übernehmen, hat sich das Dorf verändert. Der „Müntzer“ wurde kurz nach der Wende abgerissen, Margit Walch sah das unter Tränen, 35 Jahre hatte sie dort gewohnt. Eigentlich wollte sie das Geschäft der Eltern hier weiterführen. Nun steht das Landhotel Potsdam auf dem Grundstück. Und es heißt, die neuen Eigentümer wären glücklos. Auch fast fünfzehn Jahre nach der Wende ist Golm ein dunkler, bedrückender und deprimierender Ort geblieben. Selbst die strahlenden Zweckwürfel des naturwissenschaftlichen Campus können den Eindruck der Einöde nicht verdrängen. Als ob ein Fluch der ehemaligen Stasi-Hochschule auf dem Dorf lastete und es behäbig und träge macht. Mit dem Verschwinden des „Müntzers“, sagt Frau Walch, wäre Alt-Golm das Herz herausgerissen worden. Im großen Saal hätten Karnevalssitzungen und Anglerbälle stattgefunden. Dem Dorf wurde so der Treff- und Mittelpunkt geraubt. „Die Gemeinschaft war weg“, sagt Walch. In ihrem „Schaffner“, der nur Gesellschaften bis 80 Gäste aufnehmen kann, versucht Frau Walch zwar, Ersatz zu schaffen. Stammtische, Skatrunden und Seniorenkaffees finden statt. Aber ein Ort, an dem sich eine neue Dorfidentität bildet, ist die Wirtschaft noch nicht. Walch sagt nüchtern, „Alt- und Neu-Golmer kriegen sie nicht zusammen.“ Für die Wissenschaftler des Max-Planck-Campus bietet der „Schaffner“ Catering an. Walch liefert belegte Brötchen, Kaffee und Kuchen für Meetings. Die offenherzige Wirtin hat sich auch hier eine Meinung gebildet: „Die Wissenschaftler sind eine andere Menschengruppe – mehr sag“ ich aber nicht.“ Und tut es dann doch. Einige, die Eiligen ohne Zeit und ohne Verständnis für den Ort, wünschten sich den ganzen Bahnhof um dreihundert Meter hin zum Forschungscampus versetzt, damit sie noch schneller fort kommen. Margit Walch wird noch viel versuchen, sie ist eine unverbesserliche Optimistin. Kurz nach der Eröffnung, die zeitgleich mit der Einweihung des Uni-Shuttles erfolgte und mit vielen Hoffnungen verbunden war, verunglückte ihr Geschäftspartner tragisch. Er wurde mit seinen beiden Kindern Opfer des Flugzeugabsturzes in der Dominikanischen Republik. Beinahe wäre ihr Sohn auch mitgefahren. Frau Walch hat damals weiter gemacht, und wird auch jetzt weiter machen. „Manchmal fühl ich mich wie 16, manchmal wie 600 Jahre alt“, sagt sie und eilt in die Küche. Der Rotkohl ist vor lauter Erinnerungen angebrannt.

Matthias Hassenpflug

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