Landeshauptstadt: Rüssel außer Rand und Band
Exotische Tiere durch anfassen „sehen“ – der Circus Voyage macht dies für Blinde kostenlos möglich
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Exotische Tiere durch anfassen „sehen“ – der Circus Voyage macht dies für Blinde kostenlos möglich Die Elefanten interessiert es wenig, ob jemand blind ist oder nicht. Neugierig fuhrwerken ihre Rüssel durch das kleine Zelt und versuchen die Gruppe von Gästen vor dem Gatter zu erreichen. Gerade einmal fünf Elefanten nennt der Circus Voyage sein eigen. Doch deren fünf Rüssel reichen, um einen auf Trab zu halten. Sicherheitsabstand ist an diesem Montag, draußen am Volkspark, trotzdem nicht gefragt, denn eine Gruppe von 14 Blinden der Blindenberatungsstelle des Sozialwerkes Potsdam e.V. ist gekommen, um die Zirkustiere durch anfassen zu „sehen“. Und in dem beheizten Zelt, wo neben den Elefanten auch ein Zebra, eine Giraffe und drei Zwergpferde untergebracht sind, hat Zirkusdirektor und Elefantendresseur Alois Spindler alle Hände voll zu tun, um seine neugierige Bande von Dickhäutern im Zaum zu halten. Es ist ein Grundsatz des Circus Voyage, der noch bis einschließlich dem 6. Dezember in Potsdam gastiert, den Besuchern das Leben in und neben der Manege so hautnah wie nur möglich zu bringen, erklärt Spindler. „Am Sonntag kam nach der Vorstellung eine junge Mutter zu mir und fragte, ob ihre blinde Tochter mal einen Elefanten anfassen könnte.“ Diesen Wunsch zu erfüllen, das war selbstverständlich für Spindler, genauso selbstverständlich wie die kostenlose Sonderführung für die Gruppe von der Potsdamer Blindenberatungsstelle. Doch ganz so wörtlich will Alois Spindler das Anfassen bei manchen Tieren dann doch nicht nehmen. Zu den hauseigenen Tigern in ihren Gitterwagen lassen der Zirkusdirektor und seine Gästen genügend Abstand. Auch wenn diese großen Katzen träge und eher gelangweilt im Stroh liegen und so ganz harmlos wirken, will sie niemand unterschätzen. Und während Spindler der Gruppe das Leben und die Arbeit mit den Tigern erklärt, haben drei der gestreiften Riesenkatzen etwas viel Interessanteres entdeckt. Wie gebannt starren sie durch die Gitter auf ein paar Gänse, die in wenigen Metern Entfernung friedlich und lautstark ihrem Tagesgeschäft nachgehen. „Drei Wochen habt ihr noch“, ruft einer der Gäste in Richtung Geschnatter. Doch Spindler muss ihm gleich die Illusion vom leckeren Weihnachtsbraten nehmen. „Die sind nicht zum Verzehr gedacht, die gehören zum Zirkusprogramm“, erklärt er und provoziert Nachfragen. Was mancher für einen Scherz hielt, ist Spindler bitterer Ernst. „Das ist der Unterschied zu einem Bauernhof. Unsere Tiere landen nicht im Kochtopf“, sagt er. Mit den Gänsen hat seine Tochter ihren regelmäßigen Auftritt in der Manege. Sie lasse das Federvieh einmal durchs Rund watscheln und dann eine Rutsche hinunter sausen. „Für die Erwachsenen der dreifache Salto und für die Kinder die rutschenden Gänse“, fasst Spindler die Spanne der Unterhaltung im Circus Voyage zusammen. Es ist diese zwanglose und gleichzeitig herzliche Art, mit der Alois Spindler durch die verschiedenen Tierzelte führt, und so schnell das Vertrauen seiner blinden Gäste erhält. Immer wieder, ob bei den Pferden oder Kamelen, fordert er die Besucher auf: „Packen Sie die Tiere ruhig an.“ Bei den Elefanten jedoch geben sich die meisten in dieser Hinsicht anfangs noch etwas zurückhaltend. So ein Rüssel ist schließlich ein schwer zu bändigendes Ding. Doch Spindler greift beherzt zu und vorsichtig tasten die ersten Blinden danach. Überraschend rau und borstig, so die einhellige Meinung. Manch Mutiger lässt sich sogar soweit bringen, den Dickhäutern vorsichtig am Ohr zu ziehen. Derweil ist eine ältere Dame damit beschäftigt, eigens mitgebrachte Möhren und Äpfel an die Elefanten zu verfüttern. Die anfänglichen Schwierigkeiten beim gezielten Wurf in den weit geöffneten Rachen, denn diese Elefanten fressen nicht aus der Hand, sind schnell überwunden und schon macht sich Vertraulichkeit breit. Doch ein kurzer Moment der Unachtsamkeit und diese Vertraulichkeit wird von einem der Dickhäuter schamlos ausgenutzt. Da Möhren und Äpfel alle sind, die Elefanten aber noch nicht satt, greift ein Rüssel frech den leeren Stoffbeutel. Da hilft auch kein empörter Protest, dieser Beutel soll gefressen werden. Schon halb im Elefantenmaul verschwunden, kann Spindler rechtzeitig eingreifen und mit hartnäckiger Überzeugungsarbeit den Elefanten doch noch vom Nichtverzehr überzeugen. Dirk Becker
Dirk Becker
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