Homepage: Sauna im arktischen Eis
Wie sich AWI-Techniker Jürgen Graeser auf einer Eisscholle ein Haus baut, um das Nordpolarmeer zu überqueren
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Fast wäre die Expedition gescheitert, noch ehe sie begonnen hatte. Und das am eigenen Forschungsgegenstand: der globalen Klimaerwärmung. Unterwegs im arktischen Ozean, einer Schlüsselregion des Klimawandels, fand die Mannschaft der russischen Driftstation NP-35 lange keine geeignete Eisscholle, die sie bis zum nächsten Frühling sicher über den Nordpol tragen würde. Das Eis war zu dünn, zu brüchig und übersät mit riesigen Schmelzwasserpfützen. Auch Techniker Jürgen Graeser vom Alfred-Wegener-Institut (AWI) in Potsdam, der als erster Deutscher auf einer Driftstation überwintern sollte, sah seine Felle wegschwimmen. Die Zeit bis zum Einbruch der Polarnacht wurde knapp. Ende September bekam die Expedition dann aber doch noch gefrorenen Boden unter die Füße: drei Kilometer breit, drei Meter dick. Stabil genug für die 300 Tonnen schwere Forschungsstation.
Inzwischen haben sich Jürgen Graeser und seine 21 russischen Kollegen häuslich eingerichtet auf dem eisigen „Schiff“ ohne Steuer, das von Strömungen und Winden angetrieben wird. Stürmt es aus nördlicher Richtung, wirft es die Scholle zurück, so wie kürzlich um fast 50 Kilometer. Kommt der Wind aber vom Festland, bringt er die Expedition wieder auf Kurs, im Gepäck die eisige Luft vom Kontinent. Sibirische Kälte um minus 30 Grad, die selbst einen erfahrenen Polarfuchs wie Jürgen Graeser schlottern lässt. Sogar der Diesel im Tank beginnt zu gelieren. „Bei kräftigem Wind bleibt man dann doch lieber zu Hause“, schreibt Graeser in seinem wöchentlichen Bericht nach Potsdam.
Sein „Zuhause“, das war bislang ein beheizter Laborcontainer, in dem er zwischen surrender Technik und klackenden Apparaten sein Nachtlager aufschlug. „Die Messungen haben eben Priorität“, sagt seine Kollegin Siegrid Debertin im AWI auf dem Potsdamer Telegraphenberg. Täglich sendet sie den Wetterbericht auf die Scholle und empfängt von Graeser die meteorologischen und physikalischen Messdaten, die er mit dem Fesselballon in der Atmosphäre gesammelt hat. Jetzt, da sich Arbeitsroutine eingestellt hat, kommt Graeser dazu, sich ein eigenes Haus zu bauen. Auf Kufen stehend kann er es hin und her schieben, sollte das Eis darunter einen Riss bekommen. Bett, Tisch und Stühle muss er selbst zimmern. „Gar nicht so einfach“, schreibt er. „Ich kann ja nicht eben mal in den Baumarkt gehen.“ Nach mehreren Überwinterungen in Polarregionen ist Jürgen Graeser ein Meister der Improvisation. Und klagt auch nicht über spartanische Verhältnisse. Seit Einbruch des Winters gibt es kein Schmelzwasser mehr. Eine Art Tauchsieder hält immer eine kleine Menge Wasser flüssig. Für Katzenwäsche und Zähneputzen gibt es täglich nur einen Liter. Am Badetag darf Graeser mit einer Kelle zwanzig Liter aus einer Schüssel schöpfen und dabei von einer warmen Dusche träumen. Auch die Toilette lässt jeden Komfort vermissen: ein Holzhäuschen über einem Dieselfass. „Gott sei Dank“, schreibt Graeser, „ist das Häuschen jetzt zur Elektrostation umgezogen, wo es ein wenig beheizt wird.“
Einziger Luxus ist eine Sauna für das leibliche Wohl. Das darf vor allem beim Essen nicht zu kurz kommen. Wegen der hohen Wärmeverluste verbraucht ein Polarforscher 4800 Kalorien am Tag. Die müssen in der „Kajut Kompanja“ wieder aufgefüllt werden. Auf dem Speiseplan stehen Hähnchen mit Rote-Beete-Salat, Fisch mit Reis, Gulasch mit Buchweizen. Dazu Brot und Knoblauch und als Kompott eingeweichtes Trockenobst. „Genießbar, aber gewöhnungsbedürftig“, kommentiert Graeser das Essen, froh, gut versorgt zu werden, wo doch der Koch in letzter Minute abgesagt hatte. Nun muss der Stationsleiter kochen, für 22 Männer und zwei Hunde. Die Tiere beschützen die Station vor den einzig möglichen Besuchern, den Eisbären. Anfangs, als die Sonne noch über den Horizont kroch, hatten die Forscher die Bären rechtzeitig erspähen und mit Leuchtraketen vertreiben können. Jetzt in der Polarnacht brauchen sie den Spürsinn der Hunde und ein geladenes Gewehr.
Der schwierige und eben nicht ungefährliche Alltag auf der Scholle hat die Mannschaft zusammengeschweißt. In den Wintermonaten, in denen allein die nach Moskauer Zeit tickenden Uhren anzeigen, wann der Tag zu Ende geht, treffen sich die Männer häufiger zum Feierabend. Jürgen Graeser selbst hat kürzlich eine kleine Party ausgerichtet, die sich wegen der begrenzten Platzkapazität über drei Abende hinzog. Am ersten kamen die Techniker, am zweiten die Stationsleiter und am dritten die Nachbarn.
Die Berichte aus dem Eis:
www.polarjahr.de
Antje Horn-Conrad
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