Homepage: „Schönbohms Theorie ist großer Unsinn“
Der Potsdamer Uni-Psychologe Günter Esser zu dem Fall der neunfachen Kindstötung
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Der Potsdamer Uni-Psychologe Günter Esser zu dem Fall der neunfachen Kindstötung Herr Esser, in den Medien wird wild spekuliert, was die Mutter bewegt haben könnte, eine so grausame Tat zu begehen. Sie sprechen von möglicher Erpressung. Erpressung ist denkbar. Vielleicht hat sie mit den Schwangerschaften jemanden unter Druck setzen, emotionale Zuwendung oder sogar Geld erpressen wollen. Man sollte diese Möglichkeit berücksichtigen. Denn, wenn jemand eine Tat so oft wiederholt, muss er in irgendeiner Weise damit erfolgreich gewesen sein. Was kann noch dazu geführt haben? Die Mutter muss, so viel ist sicher, schwere Bindungsstörungen haben. Wir wissen nicht, wer die Väter der toten Kinder sind. Sabine H. soll häufiger wechselnde Männerbekanntschaften gehabt haben. Sind die Kinder aus kurzfristigen Beziehungen, wäre das eine mögliche Erklärung dafür. Was unterscheidet diesen Fall von anderen Kindstötungen? Das Problem in diesem Fall ist die Häufigkeit. Neun tote Kinder. Die Frau war nicht nur einmal kurzfristig beeinträchtigt und emotional überfordert, sondern neun mal. Die Schwangerschaften und das Töten der Kinder ist zu einer chronischen Situation geworden, die sich über 14 Jahre hingezogen hat. Der Hintergrund dafür muss in der Persönlichkeitsstruktur von Sabine H. liegen. Sie soll aus einem sehr christlichen Elternhaus kommen. Könnte religiöser Druck sie davon abgehalten haben, zu verhüten? Das glaube ich nicht. Sie war verheiratet, hatte bereits drei Kinder. Da hätte sie auch die vierte Schwangerschaft nicht verheimlichen müssen. Oder sie hätte abtreiben können. Es passt nicht, aus religiösen Gründen keine Pille zu nehmen, aber dann ein Neugeborenes zu töten. Was mich erstaunt ist, wie eine Frau so wenig Mitgefühl für ihre ausgetragenen und alleine zur Welt gebrachten Kinder empfindet. Es gibt Frauen, die kein Kind wollen, ihre Schwangerschaft ausblenden. Aber bereits drei Geburten hinter sich zu haben, damit gut klar gekommen zu sein, das deutet darauf hin, dass sich Sabine H. bei den folgenden Geburten in keinem Schock befand. Erstaunlich, dass sie scheinbar relativ normale Beziehungen zu ihren lebenden Kindern aufbauen konnte. Was ist mit der Rolle der Gesellschaft? Was halten Sie von Schönbohms Proletarisierungs-These? Er beklagt, dass es als Nachwirkung des DDR-Systems besonders im Osten an gegenseitigem Verantwortungsbewusstsein fehle. Ich komme aus Mannheim und lebe seit zehn Jahren im Osten. Schönbohms Theorie ist großer Unsinn. Ich habe an einer Langzeitstudie mitgearbeitet, die in einem Ost-West-Vergleich nach der Wende herausgefunden hat, dass Rostocker Jugendliche psychisch gesünder sind als die Mannheimer. Sie neigten weniger zu Labilität oder asozialem Verhalten. Der Zusammenhalt in den Familien der Probanden im Osten war stärker ausgeprägt als der im Westen. Trotzdem ist es in den letzten Jahren gerade im Osten vermehrt zu grausamen Gewalttaten gekommen. Stimmt. Es gibt so eine Häufung, im großen Zusammenhang gesehen aber ist Kindstötung ein relativ seltenes Phänomen, es gibt in Deutschland jährlich rund 30 Fälle. Dieser schreckliche Fall mit den vielen Opfern lässt die Brandenburger Zahlen extrem erscheinen. Wären die Tötungen auf die DDR-Sozialisation zurückzuführen, hätte es ja auch zu DDR-Zeiten öfter solche Straftaten geben müssen. Ich sehe den Fall als extrem grausamen Einzelfall. Wie den des Menschenfressers aus Rothenburg. Sein Verhalten hat man schließlich auch nicht auf seine hessische Herkunft bezogen. Noch einmal zurück zur Rolle der Gesellschaft. Sie sagen, Sie glauben nicht, dass der Mann oder die Nachbarn die Schwangerschaft nicht bemerkt haben. Das Weggucken ist ein allgemein gesellschaftliches Problem. Bei Gewalt, bei rechten Straftaten. Es wird zu wenig Bürgerverantwortung gelehrt. In den Schulen, in den Familien, in den Medien. Sie sind Gutachter bei Gericht. Hätten Sie diesen Fall übernommen? Ja, sicher. Was ist die Aufgabe eines Gutachters? Es geht für den Gutachter nicht darum, neue Fakten, sondern die Persönlichkeit zu ergründen und zu würdigen. Man muss herausfinden, ob eine schwere Minderbegabung, eine Affekttat oder eine „gerichtsverwertbare“ psychische Störung vorliegt. Ist der Angeklagte schizophren? Haben schwere Konflikte zu der Tat geführt, Depressionen, starke Ängste, Sexualstörungen oder zwanghaftes Verhalten? Unter bestimmten Umständen kann die Schuldfähigkeit gemindert sein. Sabine H. soll die in Blumentöpfen vergrabenen Leichen auf den Balkon gestellt und sich dazu gesetzt haben, um in der Nähe ihrer Kinder zu sein. Spricht das für ein Bereuen der Tat? Das kann ich mir nicht vorstellen, ein solches Verhalten ist eine sehr makabre Anhänglichkeit, die fast nach Schizophrenie klingt. Eine gespaltene Persönlichkeit? Das nun auch wieder nicht. Das wäre sicher jemandem aufgefallen, dafür gibt es keine Hinweise. Eine Nachbarin soll gesagt haben, dass sie unzusammenhängend erzähle, übergangslos von einem Thema zum anderen wechselt. Gedankenabrisse. Das hat aber niemand sonst bemerkt. Das scheint unrealistisch. Wird der Fall noch Überraschungen bringen? Das ist gut möglich. Man bekommt alle Informationen nur über Zweite oder sogar Dritte, so dass man sich nur annähern kann, an dass, was passiert ist. Man liest, dass die Frau ein Alkoholproblem hatte und zur Flasche griff, als die Wehen einsetzten. Das kann ich kaum glauben. Wie viel muss man trinken, um durch den Adrenalinstoß bei einer Geburt nicht wieder schlagartig nüchtern zu werden? Der Fall ist in der Geschichte einzigartig. Selbst in der forensischen Literatur habe ich keinen vergleichbaren gefunden. Die ersten Taten müssen die schlimmsten gewesen sein. Dann wurde die Hemmschwelle geringer? Wie Sie sagen. Sie stellte die Kinder auf dem Balkon ab, eins nach dem anderen – und blieb unbehelligt. Sie stolperte ungeplant in die nächste Schwangerschaft. Und hat pragmatisch weitergemacht. So könnte es gewesen sein. Das fehlende Mitgefühl ist bestürzend. Das Interview führte Marion Hartig
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