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DICHTER Dran: Schöner wohnen

Manchmal hat man Glück. Dann kann man hautnah miterleben, wie über Zukunft entschieden wird.

Stand:

Manchmal hat man Glück. Dann kann man hautnah miterleben, wie über Zukunft entschieden wird. Da ich noch nicht in den Urlaub gefahren bin, wird mir dieses Glück zuteil. Ich werde Zeugin des Moments, in dem sich ein Stadtviertel, das seit Jahren einen inneren Kampf darüber austrägt, ob es sich es schwerer oder lieber leichter machen soll, dafür entscheidet, es sich ganz leicht zu machen. In Babelsberg sind alle Familien ausgeflogen. Am Fenster eines zu vermietenden Ladens prangt ein Schild. Es kündigt mal wieder die Eröffnung eines neuen Shops an. Die erst kürzlich teuer sanierte und von den Anwohnern ordentlich mitfinanzierte Babelsberger Vorzeigestraße namens Karl-Liebknecht bekannte sich gerade noch mit einem Gnocchi-Restaurant, in dem endlich jemand etwas vom Kochen versteht, zu Stil. Jetzt leistet sie sich direkt daneben einen Erotikladen. Bei Salbei-Pfifferling-Gnocchis und geeister Buttermilch mit Heidelbeeren kann man künftig auf Silikonbusen, armlange Gummischwänze und die rotwandigen Löcher von Aufblaspuppen glotzen. Die Jungs, die sich beim Drittligisten-Spiel in eine testosterongesättigte Stimmung gejohlt und noch kurz im sanierten Hauseingang das Wasser abgeschlagen haben, können auf dem Weg zur S-Bahn bequem in der Stimulanzbude erogener Körperflüssigkeiten verschwinden. Da müssen die Kinder, die sich ausnahmsweise mal unbeaufsichtigt von den Eltern an den Spielgeräten längs des Weges drehen, eben ein bisschen aufpassen, dass sie von den Inhabern des stieren Blicks nicht umgerannt werden. Die Grundschule ist keine hundert Meter entfernt. Bisher gibt es in dieser Gegend zwei Spezialweinläden, drei Blumenläden, drei bis fünf Apotheken, eine exquisite Suppenbar, zwei Fotoläden, vier Optiker, etliche Billigklamottengeschäfte, einen Bio-, einen Regioladen und etwa fünfzig Friseure. Bisher war ich noch unsicher, in welche Richtung das Ganze gehen sollte. Wer darüber zu entscheiden hat, schien sich nicht entscheiden zu können, lebte nicht hier oder hatte schlichtweg keine Ahnung vom Gestalterischen. Jetzt sieht die Lage anders aus. Der entscheidende Wandel ist eingeleitet. Nur: Außer mir kriegt das niemand mit. Sind ja alle in den Ferien.

Unsere Autorin Antje Rávic Strubel lebt und arbeitet als Schriftstellerin und Übersetzerin in Potsdam. Für ihren 2007 erschienen Roman „Kältere Schichten der Luft“ erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen.

Antje Rávic Strubel

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