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SAMSTAGScocktail: Schritt zurück

Jetzt ist Alain Resnais auch noch tot. So nach und nach sterben alle weg, die Größe und Witz hatten.

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Jetzt ist Alain Resnais auch noch tot. So nach und nach sterben alle weg, die Größe und Witz hatten. Und ein Gespür für Präzision. Im Dezember Helga M. Novak, dann Philip Seymour Hoffmann. Jeden Tag warte ich voller Furcht darauf, dass Milan Kunderas Tod verkündet wird. Mit Oscar Niemeyer ging es los. Als er fast hundert war, platzte das Projekt für eine Badeanstalt in der Stadt nach einem Entwurf von ihm (Geld und andere kleingeistige Gründe).

Genies erkennt man gemeinhin daran, dass Leichtigkeit und Ernsthaftigkeit zusammengehen.

Wenn Niemeyer ein neues Gebäude entwarf, ging er zum Zeichenblock und ließ seinen Stift ein paar Sekunden lang übers Blatt tanzen. Er machte einen Kringel hier, eine Wellenlinie dort und davor noch ein paar kleinere versprengte Krakel (Menschen), die Mitarbeiter erledigten den Rest. Was zählt, ist das Gesamtbild. Der Schritt, den man zurücktritt. „Mir geht es um Schönheit, um Kunst, damit auch die Architektur durch das Unerwartete Überraschung und Staunen auslöst.“

Von diesem Staunen leben alle wirklichen Kunstwerke. Es macht, dass man wenigstens einen Moment lang aufhört, kleinkariert zu sein. Vor einem präzisen Satz, einem verrückten Roman, einem überwältigend schönen Film spielen Haare im Waschbecken, Hundekot auf dem Gehweg und die grusligen Aktualitäten im Radio plötzlich keine Rolle mehr. Nicht auszudenken, was für ein Strahlen und Leuchten das gewesen wäre, ein Gebäude von Niemeyer in der Stadt! Die Leute, die dort ein und ausgegangen wären: lauter bestrahlte Wesen. Lichtkränze, die mit keiner Geldsumme hätten aufgewogen werden können.

Leider gewinnt das Kleinkarierte fast immer. Man weiß nicht genau, woran es liegt, aber es ist so ähnlich wie in Luis Buñuels Film „Der Würgeengel“. Als gäbe es eine unsichtbare Wand, die verhindert, dass Witz und Größe hereinkommen. Dabei hilft es ungemein, alles aus einer posthumen Position heraus zu begreifen. Eben jener Niemeyersche Schritt, den man zurücktritt. Der Gedanke kommt mir beim Betrachten meines Lieblingsschaubildes im Zinnsoldatenmuseum im Krongut: „Rückzug der Napoleonischen Truppen aus Russland“. Draußen im Hof ist das Wirrwarr dann eher das gewohnte: Bäcker seit Langem pleite, an den Holzbuden Kästen mit Stiefmütterchen, die Ankündigung einer Après-Ski-Party (sic!) – und die historischen Traktoren haben inzwischen alle einen Platten. „Abwechslung ist ein notwendiges Charakteristikum und kann sich als lehrreich erweisen.“ Auch ein Satz von Niemeyer. Aber der war dann doch anders gemeint.

Unsere Autorin lebt in Potsdam. Zuletzt erschien von ihr der Roman „Selbstporträt mit Bonaparte“.

Julia Schoch

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