Landeshauptstadt: Schützengräben am Schillerplatz
Christa-Maria Lyckhages Tagebuch über das Kriegsende beim Förderverein Schillerplatz vorgestellt
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Brandenburger Vorstadt – An die Schützengräben am Schillerplatz können sich Bewohner, die schon im April 1945 dort wohnten, noch erinnern: „Die Russen liefen in den Gräben hin und her und wir guckten durch die Schlitze der Fensterläden“. Die Soldaten seien schließlich mit vorgehaltener Maschinenpistole in die stromlosen dunklen Wohnungen gekommen und hätten die Federbetten weggerissen, um nach Soldaten zu suchen.
Diese und andere Erinnerungen wurden wach, als Hendrikje Beschnidt Montagabend in der Seniorenfreizeitstätte am Schillerplatz aus einem Tagebuch besonderer Art vorlas. Die Aufzeichnungen stammen von der heute 87-jährigen Christa-Maria Lyckhage, die damals mit ihrer Mutter Dorothea Schneider in der heutigen Wielandstraße 22 wohnte. Eine Straße im Kirchsteigfeld ist nach dieser Frau, die Juden vor den Nazis versteckte, benannt. In den Notizen ihrer Tochter geht es jedoch nicht darum, sondern um die Tage vom 9. April bis zum 10. Mai vor 63 Jahren. Der „Förderverein zum Wiederaufbau der Bastion am Schillerplatz e.V.“ hatte zu der Lesung, zu der sich zahlreiche Interessenten einfanden, eingeladen. Im Zusammenhang mit Recherchen über die Wohnungsbaugenossenschaft Potsdam-West und die Bastion am Havelufer war Christa-Maria Lyckhage in Göteborg ausfindig gemacht worden. Die alte Dame hatte dem Journalisten Jürgen Rohne ihre von damals Aufzeichnungen überlassen.
Vom Luftangriff auf Potsdam, welcher die „Friedrichsstadt“, wie die Wohnsiedlung damals hieß, weitgehend verschonte, ist die Rede. 28 Verschütte mussten dennoch ausgegraben werden, weil eine Bombe sich in den Schillerplatz „verirrte“. Die Zeitungsredaktion war ausgebrannt, ohne Strom gab es keine Radio-Nachrichten, stundenlanges Anstehen nach Brot, Kartoffeln und Marmelade, tagelanges Ausharren in den Kellern, Straßenkämpfe, Tiefflieger und Artilleriebeschuss. In Babelsberg soll am 4. Mai ein Hitlerjunge einen sowjetischen Offizier erschossen haben. Hundert Deutsche hätten die Russen dafür erschossen. Mit Panzern, Lastwagen und Pferdefuhrwerken kamen die Russen; ihre Pferde weideten auf dem Rasen um den Schillerplatz. „Wie die Kinder sind sie“, schreibt Lyckhage über die russischen Soldaten. Und die deutschen Kinder hätten sie „Onkel“ genannt und mit den Worten „Uri, Uri“ – „Uhr, Uhr“ – gefoppt.
Von Gelagen im Keller berichtet eine Zeitzeugin. „Die tranken den Schnaps, den mein Vater für den Endsieg versteckt hatte; es glaubte doch niemand, dass wir den Krieg verlieren würden...“. Dem Tagebuch von Lyckhage ist zu entnehmen, wie sich die Menschen auf die Umstände einstellten, sogar die Sprache der Sieger lernten. Eintragung am 7. Mai: „Meine erste Russisch-Stunde“. Und am 9. Mai: „Großes Feuerwerk über Potsdam.“
Die Tagebuchaufzeichnungen der damaligen Studentin Lyckhage geben Eindrücke wieder, die sich jedem, der diese Zeit miterlebte, in ähnlicher Form eingeprägt haben. Sie vermittelten den anwesenden Jüngeren ein wenig von dem Inferno, in dem nicht nur die Männer an den Fronten, sondern auch die Alten, Frauen und Kinder daheim einem grausamen Geschehen ausgeliefert waren. G. Schenke
G. Schenke
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