zum Hauptinhalt

DICHTER dran: Schweinegrippefreak in Trauer

Kürzlich hätte ich in New York sein sollen; eine bezahlte Reise, die mich mit Schriftstellern aus aller Welt zusammengeführt hätte, Cocktailempfänge und Dinnerpartys inklusive. Leider war gerade die Schweinegrippe ausgebrochen.

Stand:

Kürzlich hätte ich in New York sein sollen; eine bezahlte Reise, die mich mit Schriftstellern aus aller Welt zusammengeführt hätte, Cocktailempfänge und Dinnerpartys inklusive. Leider war gerade die Schweinegrippe ausgebrochen. In New York wurden Schulen geschlossen. Ich sah mich schon in einem Flugzeug voller fiebernder Mexikaner, das auf eine Quarantäne-Position geleitet wurde, in Todesangst und abgeschoben weit draußen in die Bronx. Potsdam hat keinen Flughafen. Hier fühlte ich mich sicher. Das Sicherheitsgefühl verlor aber, als ich es hatte, rasant an Bedeutung, und schon, als der Flieger ohne mich abhob, kam ich mir vor wie die Totalversagerin, ein Schweinegrippefreak in Trauer. Ich hätte das Empire State Building haben können und saß im Mercure Hotel. Ich hätte durch Soho schlendern können und war im Holländischen Viertel geblieben. So fängt es an. Es war der härteste Test, den Potsdam je hat aushalten müssen. Wie früher, als die Potsdamer ihre Einkaufsstraße Broadway nannten, um auch mal da gewesen zu sein; ich versuchte standhaft, New York zu ersetzen. Die Voraussetzungen dafür sind heute viel besser. Es gibt Starbucks und Daily Coffee und disneymäßig zurechtrestaurierte Barockbauten und bald ein ebensolches Schloss, dazu eine abendliche Stille, die der im Finanzviertel von Manhattan entspricht, es gibt Läden, die mit der Geschwindigkeit der Stadt, die niemals schläft, neu eröffnen und ausverkaufen, und die Mietpreise gleichen sich langsam an.

Aber es ging nicht. Der iceblended coffee hatte schwarze Klümpchen, die Humboldtbrücke war keine Brooklynbridge, und die Leute auf dem Broadway hinkten. Egal, wen ich ansah, pastellfarbene Touristen, Hunde oder das Pärchen in Röhrenjeans, sobald sie in mein Blickfeld kamen, lahmten sie. Es war klar: das Schweinegrippevirus hatte mich eingeholt, es griff den Sehnerv an. Vielleicht hinkte auch nur der Vergleich. Der Potsdam-New York-Vergleich ist nicht besser als der Verwandtenvergleich: „Du bist deiner Tante wie aus dem Gesicht geschnitten!“ oder der Kohortenvergleich: „Für dein Alter siehst du aber noch gut aus!“

Solche Vergleiche sind immer erniedrigend, auch wenn man besser wegkommt. Sie erinnern daran, wie vergänglich man ist.

Unsere Autorin lebt und arbeitet als Schriftstellerin und Übersetzerin in Potsdam. Ihr 2007 erschienener Roman „Kältere Schichten der Luft“ erhielt zahlreiche Auszeichnungen und war für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.

Antje Rávic Strubel

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })