Landeshauptstadt: Selbstjustiz eines lärmgeplagten Hausbewohners
Gericht: Verständnis für die Nöte des Angeklagten / Verfahren wegen geringer Schuld eingestellt
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Gericht: Verständnis für die Nöte des Angeklagten / Verfahren wegen geringer Schuld eingestellt Von Gabriele Hohenstein Immer wenn Ingo K. (17) sturmfreie Bude hatte, lud er Kumpels ein und drehte die Musikanlage auf „volle Pulle“. Den wenigsten Bewohnern des Neubaublocks gefielen Art und Lautstärke des dargebotenen Kunstgenusses. Bitten der Mieter um Drosselung des Lärmpegels ignorierte der junge Mann ebenso wie warnende Hinweise der Polizei, die Anlage zu konfiszieren, falls sich nichts ändere. Am Nachmittag des 1. November vorigen Jahres platzte Thomas R. (41) schließlich der Kragen, was ihn nun auf die Anklagebank des Amtsgerichts brachte. Wutentbrannt – so die Staatsanwältin – soll der gelernte Baumaschinist an der Nachbarwohnung geklingelt, die spaltbreit geöffnete Tür aufgedrückt, mit Fäusten auf Ingo eingeschlagen und ihn auf das Übelste beleidigt haben. Der inzwischen Arbeitslose macht kein Hehl aus seinem Ausrasten. Gestresst von seiner Umschulung habe er sich auf einen gemütlichen Feierabend gefreut. „Dann sah ich die ganzen Fahrräder am Haus. Da wusste ich, jetzt geht der Rummel wieder los.“ In der Tat sei die Musik so laut gewesen, dass die Tassen in der Schrankwand klapperten. „Da bin ich rüber und habe ihm eine Ohrfeige verpasst“, präzisiert Thomas K. die Anklage. „Mit der Faust habe ich nicht zugehauen. Aber ein paar derbe Worte sind schon gefallen“, gesteht er freimütig. „Man kann schließlich mal laute Musik hören“, gibt Ingo K. seine Ansicht über ein gutnachbarschaftliches Verhältnis zum Besten. „Aber nicht, wenn Sie in einer hellhörigen Neubauwohnung leben“, kontert Amtsrichterin Kerstin Devriel. „Vielleicht verdienen Sie ja einmal so viel Geld, dass Sie sich ein Haus im Wald bauen können.“ Der Zeuge scheint konsterniert. Schließlich ist er ein armes Opfer und angetreten, ausführlich zu schildern, wie er von dem Angeklagten misshandelt wurde. Nein, einen gezielten Faustschlag habe ihm Thomas R. nicht verpasst, relativiert der Liebhaber lauter Töne seine bei der Polizei getätigte Aussage. „Er hat mit seinen Fäusten rumgefuchtelt. Dabei hat er mich am Kopf getroffen“, so der Schüler. „Aber er hatte ein Schlüsselbund in der Hand.“ Nach dem Vorfall habe ihn seine Mutter gedrängt, Anzeige gegen den Nachbarn zu erstatten. „Mutti hört nämlich auch gerne mal laute Musik“, berichtet Ingo K. triumphierend. „Der Schlag mit dem Schlüsselbund kann aber nicht sehr heftig gewesen sein“, konstatiert die Vorsitzende. „Laut ärztlichem Attest wurden keinerlei Verletzungen bei Ihnen festgestellt.“ Deshalb könne das Verfahren gegen Thomas K. wegen geringer Schuld eingestellt werden. Allerdings solle er sich künftig zurückhalten, Selbstjustiz zu üben. „Und Ihnen kann ich nur mit auf den Weg geben, machen Sie das Ding leiser, sonst hören Sie von uns“, warnt die Richterin den verdutzt dreinblickenden Ingo.
Gabriele Hohenstein
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