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Eine musikalische Sonntagsvorlesung
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Eine musikalische Sonntagsvorlesung Sie kam, sah und sang. Birgit Jank brachte ihre Überzeugung, dass sich die Beschäftigung mit Musik nicht auf die Theorie beschränken darf, stimmkräftig zum Ausdruck und begrüßte die rund 50 Besucher zur „Sonntagsvorlesung“ mit einem Chanson. Eigentlich waren sie ins Alte Rathaus gekommen, um den Vortrag zum Thema „Wess'' Brot ich ess, dess'' Lied ich sing? - Singen zwischen Botschaft, Lust und Kommerz“ der Professorin für Musikpädagogik und Musikdidaktik an der Universität Potsdam zu hören. Doch Birgit Jank zeigte sich auch in der Theorie als begeisterte Anhängerin des Singens. Es bringe Menschen sich selbst und einander näher. Deshalb ist die Musikwissenschaftlerin der festen Überzeugung, dass gerade in den Schulen wieder mehr gesungen werden soll und der Musikunterricht nicht auf die theoretische Betrachtung der Liedkultur beschränkt werden dürfe. Die emotionale Dimension des Singens werde sonst ausgeblendet. Hintergrund der Debatte ist Theodor W. Adornos Kritik am gemeinschaftlichen Singen: „Nirgends steht geschrieben, dass Singen Not sei“, hatte dieser 1956 festgestellt und auf den Missbrauch der Liedkultur für blindes Gemeinschaftsgefühl abgehoben. Die Folge von Adornos Angriff war eine regelrechte Verfemung des Singens, die sich gerade in der alten Bundesrepublik niedergeschlagen habe. Erst in den letzten Jahren erlebe das Singen, so Jank, eine Renaissance, weil sich die hoch entwickelte Stimmkultur in der Populärmusik Geltung verschaffen konnte. Dieser Boom zeige sich im Zuspruch von Song-Wettbewerben und Karaoke-Abenden, zumal Jugendliche immer auf der Suche nach dem „richtigen Sound“ seien. Auch die Zahl der Laienchöre sei stark angestiegen. Bei ihrer Arbeit mit Schülern hat Jank beobachtet, wie sehr Kinder und Jugendliche durch Lieder, die sie selbst komponierten, innerste Gedanken und ernste Anliegen äußern können. Damit erobere sich das Singen einen Teil seiner ursprünglichen Bedeutung zurück, selbst wenn es trotz des Sing-Booms der vergangenen Jahre immer schwieriger werde, einen Kanon an Liedern zu finden. Nach wie vor sieht Jank einen erheblichen Unterschied zwischen dem Osten und dem Westen Deutschlands. Während im Westen die Singkultur weitgehend daniederlag, habe im Osten, teilweise durch die politische Führung ausgenutzt, teilweise in Form regimekritischer Liedermacher, das Singen stets einen hohen Stellenwert gehabt. Wäre die Musikwissenschaftlerin hier auf den grundsätzlichen Unterschied zwischen kollektivem und individuellem Singen eingegangen, wäre Adornos Kritik greifbar geworden. Bevor die Besucher entlassen wurden, sangen sie im von der Frühlingssonne durchfluteten Alten Rathaus erstaunlich wohlklingend „Die Gedanken sind frei“ mit dem Text, der in der Endzeit der DDR die Runde machte. Adorno forderte in seiner Kritik am gemeinschaftlichen Singen: „Zu fragen ist, was gesungen wird, wie und in welchem Ambiente“. Zumindest darin mochte ihm keiner widersprechen. Moritz Reininghaus
Moritz Reininghaus
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