Sport: „Soziale Arbeit für fast eine Million Euro“
Potsdams Stadtsportbund-Vorsitzender Lutz Henrich über Probleme des Breitensports, deren Lösung und eine besondere Rechnung
Stand:
Herr Henrich, in der Landeshauptstadt gibt es mehr als 10 000 Quadratmeter zu wenig Sportfläche für die vielen Potsdamer, die sich sportlich betätigen wollen. Ist der Breitensport in der selbsternannten Stadt des Sports noch zu retten?
Natürlich, aber er hat es schwer. Es gab auch in diesem Jahr weitaus mehr Anträge zur Nutzung der Sportstätten in Potsdam, als berücksichtigt werden konnten. Dadurch kommen Sportvereine immer wieder in die Zwangslage, keine neuen Mitglieder aufnehmen zu können, da die Kapazitäten einfach nicht reichen.
Was vor allem müsste passieren, damit sich alle interessierten Potsdamer durch Sport gesund und leistungsfähig halten können?
Die Stadt müsste dazu einer ihrer Pflichtaufgaben nachkommen. Im kommunalen Sportentwicklungsplan, den die Universität Potsdam jetzt gemeinsam mit der Stadtverwaltung und uns als Stadtsportbund erstellt hat, ist beispielsweise ausgewiesen, dass in Potsdam für den Schulsport ein Defizit von fast 12 000 Quadratmetern Sporthallenfläche und von zwölf Spielfeldern mit insgesamt mehr als 42 000 Quadratmetern herrscht, wenn man die entsprechenden Empfehlungen des Bildungsministeriums als Grundlage nimmt. Diese fehlenden Flächen für den Schulsport stimmen ungefähr mit den Defiziten überein, die es im Breitensport gibt. Vor allem für den Fußball fehlt es in Potsdam an Flächen. Wir fordern daher, dass die Stadt primär ihren Pflichten für den Schulsport nachkommt und damit auch die Bedingungen für den Breitensport verbessert.
Ist der von Ihnen genannte Sportentwicklungsplan lediglich eine Zustandsbeschreibung oder kann er auch konkret helfen?
Die neue Qualität dieses Sportentwicklungsplanes – dessen Verfasser Professor Jürgen Rode und seinem Team hier einmal ausdrücklich für ihre bisher schon über anderthalb Jahre dauernde Arbeit zu danken ist – besteht darin, dass ganz klare Wege zur Lösung von Problemen aufzeigt werden. Zunächst wurden alle Daten des gegenwärtigen Zustandes erfasst. Diese wurden dann ausgewertet und kürzlich auf unserer Breitensportkonferenz der Öffentlichkeit mitgeteilt. Und in der dritten Etappe wurden Arbeitsgruppen auf verschiedenen Ebenen gebildet, um ab Januar 2013 die speziellen Probleme zu diskutieren und Lösungsansätze für die Stadt auszuarbeiten. Dafür haben nach der Breitensportkonferenz viele Interessenten ihre Mitarbeit zugesagt. Die Ergebnisse dieser Arbeitsgruppen werden dann in den Sportentwicklungsplan aufgenommen. Das ist gegenüber unserem ersten Sportentwicklungsplan aus dem Jahr 2000 ein notwendiger Qualitätszuwachs.
Vor einem Jahr beklagten Sie im PNN-Interview, durch kleinkarierte Diskussionen in der Landeshauptstadt sei das öffentliche und private Sponsoring für den Potsdamer Sport stark zurückgegangen, die Situation sei sehr ernst. Können Sie da aus Ihrer Sicht inzwischen Entwarnung geben?
Diese Aussage galt vor allem für die Sportvereine, die in der Ersten, Zweiten und Dritten Liga spielen. Die Situation hat sich meiner Meinung nach ein bisschen verbessert, weil neue Verträge geschlossen wurden. Trotzdem ist – blickt man beispielsweise auf den SV Babelsberg 03, den VfL Potsdam und einige Bereiche des SC Potsdam – längst nicht geklärt, ob es die Sicherheiten für sie auch in den kommenden Jahren geben wird, weil es für alle Sportvereine sehr schwierig ist, Sponsoren zu finden.
Was sagen Sie als Stadtsportbund-Chef zur gegenwärtigen Situation beim SVB 03?
Es ist für uns sehr schwer, etwas dazu zu sagen, da wir die Gründe für das Niederlegen der Ämter des Vereins- und des Aufsichtsratsvorsitzenden nicht genau kennen. Aber wir wünschen uns für 2013, dass nach einer Stabilisierung der Situation im Verein der SVB nur noch durch gute sportliche Ergebnisse in der Presse zu finden ist.
Laut Sportentwicklungsplan bewegen sich 84,5 Prozent der Potsdamer – in weitem Rahmen gefasst – sportlich, aber sie sind längst nicht alle in den 158 Sportvereinen organisiert, die Mitglieder des Stadtsportbundes sind. Bedrückt Sie das eigentlich?
Nein, überhaupt nicht. Uns freut vielmehr, dass ein Großteil der Potsdamer Sport treibt und sich bewegt. Viele nutzen dazu einfach den Sportplatz Natur, beispielsweise zum Radfahren oder zum Spazierengehen. Der hohe Prozentsatz ist erfreulich, die zeitliche Dauer von Sport und Bewegung laut Sportentwicklungsplan aber deutlich zu gering. 150 Minuten pro Woche werden von Wissenschaftlern und Sportärzten empfohlen, auf eine solche Zahl kommt aber nur gut ein Drittel der genannten 84,5 Prozent. Fast die Hälfte bewegt sich weniger als 120 Minuten. Daraus erwächst eine wichtige Aufgabe für viele gesellschaftliche Bereiche der Stadt, besonders für uns, den Stadtsportbund.
Wie könnten noch mehr Potsdamer für den Sport im Verein gewonnen werden?
Mehr Hallenzeiten helfen, lösen das Problem allein aber nicht. Vereine müssen noch stärker auf die Wünsche der Potsdamer eingehen und sich mit ihren Angeboten verstärkt an Sportarten orientieren, die laut Sportentwicklungsplan besonders beliebt sind. Radfahren und Schwimmen, Laufen, Fitnesstraining, Fußball und Gymnastik stehen derzeit besonders hoch in der Gunst der Bevölkerung.
Wie bewerten Sie den Kinder- und Jugendsport in Potsdam als der familienfreundlichsten Stadt Deutschlands? In einem nationalen Ranking, das den Nachwuchssport als einen Indikator für eine familienfreundliche Stadt auflistet, findet sich Potsdam mit einem Anteil von 31,9 Prozent Mitgliedern bis 18 Jahre in den Sportvereinen nur auf dem 352. Platz unter insgesamt 402 Städten wieder. Ein Alarmsignal?
Ein Alarmsignal würde ich es nicht nennen, denn Statistiken sind mitunter eine besondere Spezies. Das sieht man auch daran, dass in diesem Ranking der Spitzenreiter Gelsenkirchen mit 101,0 Prozent führt. Es ist aber ein klares Zeichen dafür, dass wir hier weiterkommen müssen. Wir versuchen beispielsweise, Vereine für eine gute Nachwuchsarbeit zu motivieren, indem wir die städtischen Gelder an sie nach der Anzahl der Kinder und Jugendlichen in ihren Reihen weiterreichen, nämlich sieben Euro pro Kind im Verein pro Jahr. Außerdem wird die Umlage, die die Vereine jährlich zur Entlastung des städtischen Haushalts zahlen, unter anderem nach der Anzahl junger Mitglieder gestaffelt. Belohnt werden Vereine mit mindestens 30-prozentigem Kinder- und Jugendanteil. Es ist aber leider so, dass die Hauptursache für die von Ihnen genannte niedrige Prozentzahl die fehlenden Hallenzeiten sind.
Sehen Sie die Gefahr, dass in Zeiten klammer Kassen Breiten- und Leistungssport auseinanderdividiert werden, wenn beispielsweise Babelsberg 03 für das Karl- Liebknecht-Stadion mehrere Hunderttausend Euro erhält, während zum Beispiel in die Sportplätze in der Kirschallee und in der Kurfürstenstraße und in die Motor-Sporthalle gar nicht investiert wird?
Eine der wichtigsten Lehren, die wir bei der Erarbeitung des Sportentwicklungsplanes gezogen haben, ist, dass die Sportfamilie wieder enger und besser zusammenwachsen muss. Für uns ist die Gemeinsamkeit von Leistungssport und Breitensport Herzenssache. Wenn man nicht darauf achtet, beides gleichermaßen zu berücksichtigen, funktioniert es hier wie dort nicht. Sie haben gerade das Beispiel Babelsberg 03 genannt. Wir werden immer die Beschlüsse der Stadtverordneten achten. Und wenn sie beschließen, Babelsberg habe 700 000 Euro und jetzt auch weitere Betriebskostenzuschüsse zu bekommen, dann respektieren wir das natürlich. Es kann aber nicht im gleichen Atemzug versucht werden, die bisherige Umlage von 64 000 Euro, die wir jährlich an die Stadt abführen, durch erhöhte Beiträge der Breitensportvereine aufzustocken.
Warum sind Sie so vehement gegen eine Einführung von Sportstättennutzungsgebühren, wie es im Amtsdeutsch heißt?
Weil sie ungerecht wären. Dieses ganze Problem wurde bisher meiner Ansicht nach viel zu pauschal diskutiert. Wir müssen der Bevölkerung und speziell den Stadtverordneten noch deutlicher machen, was der Sport für die Gesundheit und Sozialisierung vor allem der jungen Potsdamer leistet. In dem Zusammenhang möchte ich hier einmal eine Rechnung vorstellen. In Potsdams Vereinen treiben derzeit 8243 Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre Sport. Bei zwölf jungen Sportlern pro Trainingsgruppe – das ist der Durchschnitt – kommt man auf 687 Trainingsgruppen. Übt jede dieser Gruppen drei Stunden in der Woche – oft sind es ja mehr –, sind das 2061 und bei 40 Wochen 82440 Stunden in einem Jahr. Setzt man nun eine Vergütung von 12 Euro pro Stunde an, leisten die ehrenamtlichen Übungsleiter der Vereine somit wichtige soziale Arbeit zum Wohle der Stadt im Wert von 989 280 Euro, also fast einer Million Euro, im Jahr! Pro Übungsleiter erhalten die Vereine übrigens rund 100 Euro – im Jahr.
Ist der Stadtsportbund andererseits zufrieden mit der finanziellen Unterstützung seiner Arbeit – und damit des Vereinssports – durch die Stadt?
Insgesamt gesehen ja. Es nutzt ja nichts, pauschal immer zu sagen, man benötige mehr. Wir haben uns mit der Stadt darauf geeinigt, dass wir als finanzielle Unterstützung zehn Euro pro Sportler und Jahr erhalten und haben in diesem Jahr 9,55 Euro bekommen. Im Großen und Ganzen kommen wir damit auch hin, allen Forderungen der Vereine können wir aber natürlich nicht nachkommen. Wir könnten ohne Probleme das Zwei- oder Dreifache an die Vereine ausgeben, andererseits ist die fast entgeltfreie Nutzung der städtischen Sportstätten die Voraussetzung für eine weitere erfolgreiche sportliche Entwicklung unserer Stadt.
Wie vor allem kann der Stadtsportbund den Sportvereinen 2013 helfen?
Am wichtigsten ist, dass wir in Gesprächen mit der Politik dafür sorgen, dass die Vereine eine konstante Sportförderung erhalten – bei entgeltfreier Nutzung der städtischen Sportstätten und gleichbleibender Umlage, um Planungssicherheit für ihre eigenen Aktivitäten zu haben. Wir fühlen uns mitverantwortlich für die Arbeit in den Arbeitsgruppen zur Fertigstellung des Sportentwicklungsplanes und werden darauf achten, dass die wissenschaftlichen Erkenntnisse auch Ausgangspunkt für Beschlüsse der Stadtverordnetenversammlung sein werden. Unsere Geschäftsstelle wird auch weiterhin allen Vereinen mit Rat und Tat zur Seite stehen.
Das Interview führte Michael Meyer.
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