Landeshauptstadt: Spaziergänge mit Wotan
Weil Kurt Gormanns 1936 nach Haifa auswanderte, überlebte er den Holocaust
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Etwas hat sich geändert im dritten Jahr der Regierung Hitler. Kurt Gormanns merkt es tagtäglich: „Freunde, mit denen ich jahrelang Fußball gespielt habe, kannten mich plötzlich nicht mehr“, erinnert er sich. Immer öfter wird er in der Schule beschimpft oder sogar verprügelt. Ein Gefühl dafür, wie ernst es den Schlägern noch werden sollte, hat Gormanns vielleicht schon damals, als Gymnasiast. „Nicht mit mir, nur weg“, sagt er sich. 1936 entschließt sich der 16-Jährige, Potsdam und damit seine Familie zu verlassen. Er geht ins israelische Haifa und tritt eine Kellnerlehre an. Eine Entscheidung, die ihm das Leben gerettet hat: Sein Vater Siegfried starb im Rigaer Getto, die Mutter Paula und der jüngere Bruder Walter David wurden in Auschwitz ermordet. Kurt Gormanns lebt heute als 88-Jähriger in Haifa.
„Es geht ihm gesundheitlich schlecht“, erzählt Hanna Tinney. Die 14-jährige Schülerin der Voltaire-Gesamtschule hat mit drei Mitschülern für das Stolperstein-Projekt das Schicksal der Familie Gormanns erforscht – und Kontakt zu Kurt Gormanns aufgenommen. Zuerst telefonisch. Im Februar erreichte sie dann ein Brief aus Haifa: Darin beschreibt Kurt seine Erinnerungen an Potsdam. „Ich war sehr glücklich, dass wir ihn gefunden haben und er noch lebt“, sagt Hanna Tinney.
Sie charakterisiert die Familie Gormanns als „guten bürgerlichen Mittelstand“: Siegfried Gormanns führt ein Weißwaren-Geschäft in der Brandenburger Straße 33, das er vom Schwiegervater übernommen hat. Seine Frau Paula hilft ihm, engagiert sich aber auch für soziale Zwecke in der jüdischen Gemeinde. Mit den jüdischen Ritualen nehmen es die Gormanns“ ansonsten nicht allzu streng, auch wenn Paulas Vater, Lesser Hirschbruch, Gemeindevorstand in Potsdam war. Nur an hohen Festtagen besucht die Familie die Synagoge am Wilhelmplatz, dem heutigen Platz der Einheit.
Die gute Seele des Haushaltes in der Ludwig-Richter-Straße 30 heißt „Freueli“. So nennen die Gormanns“ liebevoll ihr Kindermädchen, das sich um viel mehr kümmert als nur die Erziehung der beiden Söhne – jeder hat ein eigenes Zimmer in der großzügigen Wohnung. Sie kocht auch jeden Abend die gemeinsame Mahlzeit, bäckt den Kuchen, den Paula ihren Freundinnen beim wöchentlichen Kaffeekränzchen serviert. Und sie kümmert sich um den Schäferhund Wotan, als Kurt ins Ausland gegangen ist. Die Spaziergänge mit Wotan fehlen dem älteren der Gormanns-Söhne besonders.
Für seine in Potsdam gebliebene Familie wird das Leben nach der so genannten „Reichskristallnacht“ im November 1938 „sehr schwierig“, schreibt Kurt Gormanns. Am Schaufenster des Ladens hängen plötzlich Plakate: „Kauft nicht bei Juden!“ Die Gormanns“ können kaum noch einkaufen: Denn sie dürfen Geschäfte nur noch zwischen 14 und 16 Uhr nachmittags betreten. Dann gibt es aber keine frische Ware mehr. Der Sohn im Ausland ist Anlass für bürokratische Schikanen: Denn immer wieder müssen Anträge gestellt werden, damit die Eltern etwas Geld nach Haifa schicken können. Sie müssen den „Judenstern“ tragen und dürfen abends nicht mehr auf die Straße.
Am 13. Januar 1942 wird die Familie ins fast 900 Kilometer entfernte Riga deportiert – genau eine Woche vor Beginn der Wannseekonferenz, auf der die NS-Oberen die Massenvernichtung der Juden detailliert durchplanen. Siegfried stirbt noch im Rigaer Getto, Paula wird mit ihrem Sohn ins Vernichtungslager nach Auschwitz geschafft. Dort muss der gerade 17-jährige Walter Eisenbahnwaggons von Exkrementen und Toten säubern, wie Kurt Gormanns berichtet. Am fünften November 1943 werden Paula und Walter Gormanns ermordet.
Am kommenden Donnerstag werden in Potsdam die ersten „Stolpersteine“ verlegt. Mit diesem Gedenk-Projekt des Kölner Künstlers Gunter Demnig soll an die Opfer des Nationalsozialismus erinnert werden - bundesweit bereits in mehr als 300 Orten. Die PNN stellen jeden Tag jüdische Potsdamer vor, vor deren letzter Wohnung bald ein „Stolperstein“ liegen wird.
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