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Virtuell und schnell: Studenten der School of Design Thinking entwickelten bequemes Einkaufsmodell
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Claudius ist ein „Young Urban Professional“, kurz: Yuppie. 37 Jahre alt und aufstrebender Bänker. Er lebt in Fernbeziehung und deshalb die Woche über allein, inmitten einer Großstadt. Seine knapp bemessene Freizeit ist ihm heilig. Er will sie nicht mit Besorgungen vertun. Da er sich aber gesund ernähren möchte, kommt er um den leidigen Einkauf nicht herum.
Für Leute wie Claudius gibt es möglicherweise schon bald eine Lösung. Geht es nach einem studentischen Erfinderteam aus der Potsdamer School of Design Thinking am Hasso Plattner Institut, kann Claudius demnächst am Computer im Büro, beim Warten in Behörden oder in der Arztpraxis durch einen virtuellen Supermarkt spazieren, die gewünschten Artikel aus realistisch nachempfundenen Regalen in seinen Warenkorb legen und per Kreditkarte bezahlen. Die gepackten Einkaufstaschen kann er dann auf dem Heimweg mit einem Pin-Code aus einer zur Abholstation umfunktionierten, vierstufig gekühlten Litfasssäule entnehmen.
„Cool“ war die erste Reaktion befragter Yuppies, die von Oliver Böckmann, Sven Dittgen, Bettina Michl und Christina Noweski zur Zielgruppe erkoren wurden. Die vier Studenten gehören zum ersten Jahrgang der in Babelsberg ansässigen Erfinderschule, in der während eines zweisemestrigen Zusatzstudiums nach der Methode des Design Thinkings unkonventionelle Lösungen für hartnäckige Problemlagen gefunden werden. In nur zwölf Wochen kreierten sie ein modernes Einkaufsmodell, das von ihrem Praxispartner, der METRO AG, mit größtem Interesse aufgenommen wurde. Das Handelsunternehmen hatte den Innovationsbedarf bei den jungen Erfindern angemeldet und erhält nun nach kürzester Entwicklungszeit eine praktikable Lösung.
Wie kann das gehen? Wo liegt das Geheimnis der vier Studenten? Keiner von ihnen hatte bisher etwas mit Großhandel, Lebensmittelbeschaffung oder Marktforschung zu tun. Oliver studiert Software Engineering, Sven Videodesign, Bettina Betriebswirtschaftslehre und Christine Politikwissenschaften. Sie alle stehen kurz vor ihrem Hochschulabschluss. Berufserfahrung haben sie noch nicht. „Vielleicht liegt ja gerade darin ein Vorteil“, sagt Sven. „Wir standen nicht unter dem in Unternehmen üblichen Leistungsdruck, konnten ohne ökonomische Zwänge und die Angst zu versagen drauflosspinnen.“
Das Spinnen hat in der School of Design Thinking, kurz D-School, Methode. Am Anfang steht das Verständnis des Problems, ein fast kindliches Be-Greifen des Gegenstands. „Es geht darum, ganz einfache Fragen zu stellen“, erklärt Christine den Annäherungsprozess. „Wie kommt der Mensch zu seiner Nahrung?“
Alles, was ihnen dazu einfiel, schrieben die vier auf Zettel, die sie an Stellwände klebten, um ihr Thema im wahrsten Sinne des Wortes immer vor Augen zu haben. Der zweite Schritt führte sie raus in die Realität, hin zur Zielgruppe, die beobachtet, fotografiert und in Gespräche über ihr Einkaufsverhalten verwickelt wurde. „Keine standardisierte Befragung wie in der Marktforschung“, sagt Christine. „Wir wollten ja konkrete Erfahrungen herausbekommen und uns von den Wünschen der potentiellen Kunden für unser Produkt inspirieren lassen.“
Beim Design Thinking stehen niemals die technischen Möglichkeiten, sondern immer die Bedürfnisse der Menschen im Mittelpunkt. Die kristallisierten sich hier bald heraus und wurden in Prototypen wie dem 37-jährigen fiktiven, aber durchaus realen Claudius zusammengefasst.
Nach Recherchen klassischer Marktanalysen und bislang praktizierter Online-Bestellsysteme und Lieferservices ging es an die Kreation einer eigenen Idee: das Brainstorming oder auch Spinnen mit System. „Alles war dabei erlaubt“, erinnert sich Bettina. „Jeder Gedanke zählte. Und was nicht direkt weiterverfolgt werden konnte, wurde auf einem Ideenparkplatz zwischengelagert.“ Das ist Prinzip beim Design Thinking, einer Arbeitsmethode für kreative Prozesse, die an der Stanford-Universität entwickelt und von Hasso Plattner nach Potsdam gebracht wurde. Eine besondere Art des interdisziplinären Querdenkens. „Jeder bringt sein Fachwissen ein und wird vom anderen respektiert“, erklärt Oliver die gleichberechtigte, absolut vorurteils- und hierarchiefreie Kommunikation im Team. Alle sind dem Produkt verpflichtet. Niemand muss sich profilieren. Fehler dürfen und sollen gemacht werden, je früher und öfter, desto besser. Denn immer dort, wo es scheinbar nicht weiter geht, entstehen die besten Ideen. „Wir durften es uns leisten, nicht zu früh Kompromisse zu machen“, nennt Bettina noch einen weiteren Unterschied zu den Entwicklungsabteilungen großer Unternehmen, die fasziniert den Enthusiasmus in den jungen Teams bestaunen. „Eine neue, sehr demokratische Denkkultur, die sich mit den kommenden Generationen in der Praxis durchsetzen kann“, hofft Professor Ulrich Weinberg, der Leiter der D-School. Insgesamt neun Teams haben im zu Ende gehenden Studienjahr hier an ihren Erfindungen „gebastelt“, beauftragt, unterstützt und begutachtet von Praxispartnern aus Industrie und Gesellschaft, die die Innovationen jetzt verwerten können.
Das Zeit und Ressourcen sparende, äußerst kundenfreundliche Einkaufsmodell hat gute Chancen, von der METRO AG umgesetzt zu werden. Wo auch immer Bettina und Sven, Christine und Oliver dann arbeiten werden, in Verwaltungen oder in der Politik, in der Wirtschaft oder als selbstständige Kreative, sie wollen nie mehr aufhören „Design Thinker“ zu sein.
Antje Horn-Conrad
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