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Neue Richtung für die Linguistik an der Uni
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Manchmal verbirgt sich hinter einem Grammatikfehler ein Schicksal. „Kind Nummer 19“ lebt in Deutschland, in einem russischsprachigen Elternhaus. Es ist eines von drei Millionen Russischsprechern in Deutschland. Aber „Kind Nummer 19“ kann im Russischen Nominativ und Akkusativ nicht richtig verwenden. Sein sprachliches Verständnis des Russischen ist lückenhaft und vermischt sich mit Einflüssen aus dem Deutschen.
„Es sieht dramatisch aus“, sagte dazu Prof. Tanja Anstatt. Die Linguistin aus Bochum forscht zur Zweisprachigkeit russischer Einwandererkinder in Deutschland. Sprachkontakt und Sprachkompetenz, dies wurde jüngst auf einer Konferenz zum Thema Migrationslinguistik an der Universität Potsdam deutlich, sind Schlüsselbegriffe im Zeitalter globaler Migration. Die Migrationslinguistik, so der Organisator der Konferenz, Prof. Thomas Stehl vom Institut für Romanistik, ist ein neuer und brisanter Forschungszweig in der Linguistik. Sprachliche und kulturelle Konflikte seien der Hintergrund migrationslinguistischer Forschung, so Thomas Stehl zur Eröffnung der Konferenz.
Hinter den Grammatikfehlern des anonymen Kindes verbirgt sich ein mangelndes Sprachbewusstsein im Elternhaus. Eine ganze Reihe von sozialen Faktoren sei dafür entscheidend, ob Zweisprachigkeit den Kindern nütze, so Tanja Anstatt. Misslingt die sprachliche Erziehung im frühen Kindesalter, kann sich dies spätestens bei der Einschulung rächen. Es erfordere einen erheblichen Aufwand, in diesem Alter das sprachliche Ruder herumzureißen, sagte Tanja Anstatt.
Somit steht der Fall von „Kind Nummer 19“ für eine kontroverse Diskussion in Deutschland. Auch in der Linguistik, so war auf der Konferenz zu erleben, stehen sich Anhänger multikultureller Vielfalt und bildungspolitische Pragmatiker gegenüber. Ein Beispiel dazu lieferte das so genannte Türkendeutsch. Die Potsdamer Sprachwissenschaftlerin Prof. Margret Selting forscht zu diesem Thema. Sie präsentierte Mitschnitte aus Telefonaten türkisch-deutscher Jugendlicher: „Isch geh so Dings, zum Auto, weißt du?“ Entsetzen bei einem Besucher der Konferenz. „Das darf man nicht unterstützen“, so die scharfe Intervention des pensionierten Professors für Germanistik. „Diese Leute beherrschen kein Hochdeutsch.“ Eine Studentin entgegnete ihm spontan: „Ich beherrsche Türkendeutsch und Hochdeutsch!“
Auch die Romanistikstudentin Alexandra Porcu widersprach dem Professor in klarem Hochdeutsch. Die Italienerin ist in Berlin-Schöneberg aufgewachsen. Türkendeutsch ist ein Teil ihrer sprachlichen Identität. Und diese Identität ist vielschichtig: Auf Sardinien, ihrer italienischen Heimat, spricht man Sardisch. Sardisch ist eine ganz eigenständige Sprache. So wechselt die an der Linguistik besonders interessierte Konferenzbesucherin je nach Situation zwischen Sprachen und sprachlichen Registern. Hochdeutsch in der Uni, Türkendeutsch auf der Straße mit türkischstämmigen Freunden. „Italienisch steht im Pass, Sardisch habe ich im Herzen“, sagte sie. So wird deutlich, vor welchen Herausforderungen die Migrationslinguistik steht. Er sehe die Möglichkeit, der Sprachwissenschaft an der Uni Potsdam eine ganz neue Richtung zu geben, sagte Prof. Stehl.
Die Konferenz fand im Rahmen des neuen Forschungsschwerpunkts „Mobilisierte Kulturen“ statt. Sie war die dritte Tagung im Rahmen einer Graduiertenschule, die vom Land Brandenburg gefördert wird. Als einzige derartige Graduiertenschule an der Philosophischen Fakultät forschen vier Stipendiaten zu Phänomenen kultureller Begegnung. Der neue Forschungsschwerpunkt schreibt sich somit auch in eine laufende Diskussion an der Philosophischen Fakultät ein.
Seit vergangenem Jahr steht die wissenschaftliche Ausrichtung der Fakultät auf dem Prüfstand. Inzwischen ist das bisherige Motto der Fakultät, „Kulturen im Vergleich“, weggefallen. Es bestand seit dem Jahr 2001. „Wir müssen einen attraktiveren Ansatz finden“, sagte dazu Thomas Stehl nach der Konferenz. Er wünscht sich zugkräftigere Themen und mehr interdisziplinäre Offenheit in der Fakultät. Nun ist das Konzept „kultureller Begegnungsräume“ ins Spiel gekommen. „Mobilisierte Kulturen“ und Migrationslinguistik stünden für einen solchen Neuansatz in der Forschung, sagte Thomas Stehl. Der Linguist rechnet damit, dass die fakultätsinternen Debatten bis Ende Januar zu einem Ergebnis kommen.
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