Von Mark Minnes: Sprache vernetzt die Gehirne
„Herkömmliche Sprachtheorien sind Wissenschaftsmüll“ Der Linguist Helmut Lüdtke, Ehrendoktor der Uni Potsdam, sprach über Paradoxien des Begriffs Sprache
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Die Begegnung mit dem Kieler Linguisten Helmut Lüdtke, die jüngst bei einem Vortrag an der Uni Potsdam stattfand, war für die studentischen Besucher eine Begegnung zwischen Generationen. Für andere Anwesende war es ein Wiedersehen mit einem hoch geschätzten akademischen Wegbegleiter und Lehrer. Helmut Lüdtke, der zu den renommiertesten Sprachwissenschaftlern Europas gehört und seit 2002 die Ehrendoktorwürde der Potsdamer philosophischen Fakultät hat, war zu einem Vortrag über die „Paradoxien des Begriffs Sprache“ angereist: zwei Tage nach seinem 82. Geburtstag. Der Potsdamer Romanist Prof. Thomas Stehl hatte zu der Veranstaltung eingeladen, bei dem Lüdtke auch eine Festschrift zu seinen Ehren übergeben wurde.
Helmut Lüdtke hat viele wissenschaftliche Verbindungen nach Potsdam. Er ist ein Vertreter der historischen Sprachwissenschaft, die den Entwicklungsprozess von Sprachen und dessen Gesetze erforscht. Doch in Potsdam überraschte Lüdtke, der sich in seiner Laufbahn mit 50 Einzelsprachen beschäftigt und davon etwa 30 auch gesprochen hat, mit einem provokativen Grundsatzvortrag. „Was für ein Ding ist die Sprache?“, stellte der Sprachwissenschaftler eine Frage, die seine eigene Disziplin sonst recht bereitwillig der Philosophie überlässt. Er sei in den letzten Jahren mit der linguistischen Vorstellung von Sprache unzufrieden geworden, sagte Lüdtke. Er kritisierte die Annahme, dass die Analyse der kleinsten Bausteine der Sprache gleichzeitig die Frage nach dem Wesen der Sprache beantworte. „Herkömmliche Sprachtheorien sind Wissenschaftsmüll“, so die klare Botschaft an seine interessierten, aber etwas verblüfften Zuhörer.
Für die Sprachwissenschaft entsteht die kommunikative Leistung von Sprache aus kleinsten lautlichen Einheiten, die Bedeutungsunterschiede auf kontrastive Weise aufzeigen. Diese Lautsegmente, „Phoneme“ genannt, machen nach der traditionellen Auffassung aus bloßen Geräuschen eine sprachliche Äußerung. Dass die Linguistik aber angenommen habe, mit der Erforschung der Phoneme die Sprache an sich zu erfassen, ist für Helmut Lüdtke ein folgenschweres Missverständnis. Der gewitzt vortragende Linguist sah nicht nur eine kulturelle Voreingenommenheit in der hiesigen Linguistik, als er Bezug auf das Chinesische und Japanische nahm. Er kratzte stillschweigend auch an dem Mythos einer Disziplin, die in der Vergangenheit von sich sagte, sie wende sich dem Wesentlichen der Sprache zu.
Für Helmut Lüdtke geht die westliche Sprachbeschreibung fälschlicherweise von der Schriftsprache aus. „Wo herkömmliche Sprachtheorien von Sprache reden, meinen sie Texte“, so Lüdtke. Ein Missverständnis, dem ein Japaner oder Chinese seiner Ansicht nach niemals aufsitzen würde. Während unsere Buchstabenschrift scheinbar mit der mündlichen Rede zusammenfalle, also die lautliche Struktur der Rede letztlich abbilde, sei dies bei fernöstlichen Schriftzeichen nicht der Fall. Ihre Symbolik habe mit der Aussprache des Inhalts nichts gemein. Es liege dort ein Graben zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit, der auch die westliche Unterteilung der mündlichen Rede in Phoneme zweifelhaft erscheinen lässt: wieso sollte ein Japaner oder Chinese glauben, der lautliche Fluss seiner Rede zerfalle in buchstabenähnliche Einheiten?
Damit, so meinte Lüdtke, zeige sich ein Vorurteil westlicher Linguistik. Sie habe keine Definition von Sprache jenseits der schriftlichen Zeichen und ihren impliziten Entsprechungen in der Rede, den Phonemen. Helmut Lüdtke, auf dem neuesten Stand der gegenwärtigen wissenschaftlichen Kontroversen, suchte die Lösung in der Hirnforschung. Hinter der Sprache sollte keine heimlich schriftliche Architektur aus Phonemen, sondern das Gehirn und die menschliche Evolution stehen. „Sprache ist Vernetzung zwischen Gehirnen“, so Lüdtkes neue Definition. Sprache wurde ihm so zum „Sachverhalt“, zum reinen kommunikativen Akt zwischen Gehirnen. „Vielleicht können wir eines Tages auf den Begriff Sprache ganz verzichten“, spekulierte Lüdtke. Der Begriff könnte ganz aus der Mode kommen. Da schienen manche der anwesenden Sprachwissenschaftler etwas nervös zu werden. Auch wenn manche eher ungläubig reagierten: Helmut Lüdtke hatte seine Zuhörer herausgefordert.
Mark Minnes
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