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Landeshauptstadt: Sprechstunde im Auto
Seit acht Monaten bietet ein Arztmobil Obdachlosen Hilfe an – die Resonanz überrascht die Mediziner
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Babelsberg - Oliver ist auf Krankenkassen nicht gut zu sprechen. „Die treten einen nur in den Arsch“, behauptet der 33 Jahre alte Obdachlose. Einen Arzt hat er dennoch vor Kurzem besucht – ohne Vorlage seiner Versicherungskarte. Am Kosumhof in Babelsberg ist Oliver zur Sprechstunde ins Arztmobil für Obdachlose gestiegen – „wegen Bluthochdruck“, wie er sagt.
Seit acht Monaten gibt es das medizinische Angebot, das Potsdams Sozialbeigeordnete Elona Müller-Preinesberger (parteilos) „niedrigschwellig“ nennt. Denn die potenziellen Patienten haben eine hohe Schwelle von Scham, Angst und Misstrauen, um sich behandeln zu lassen. Doch die Bilanz nach etwas mehr als einem halben Jahr sei überraschend gut, sagten sowohl die Beigeordnete als auch Chefarzt Michael Oppert von der Notaufnahme des Klinikums Ernst von Bergmann. 130 Bedürftigte hätten sich bislang durch das Team im Arztmobil versorgen lassen. „Das ist erstaunlich“, befindet auch Horst Schütz, der sich als Facharzt für Allgemeinmedizin für die Sprechstunde auf der Straße gemeldet hat und abwechselnd mit zwei Klinikumskollegen und sieben Schwestern jeden Donnerstag für drei Stunden in Potsdam unterwegs ist. Inzwischen macht das Mobil nur noch am Konsumhof und vor dem Hauptbahnhof halt. Der Standort vor der Suppenküche am Stadthaus wurde aufgegeben, weil dort laut Müller-Preinesberger ein ausreichendes Versorgungsangebot für Obdachlose gegeben ist.
Die medizinische Arbeit reicht von Wundversorgung, mini-chirurgischen Eingriffen bis zu lebensrettenden Maßnahmen. „Wir hatten einen Mann mit einer schweren Lungenentzündung, der sich partout nicht einweisen lassen wollte“, berichtet Schütz. Als sich der Zustand des Mannes dramatisch verschlechterte und er schließlich den Rat doch befolgen wollte, brach er auf dem Weg ins Klinikum zusammen. Der Mann konnte gerettet werden und wurde mehrere Wochen auf der Intensivstation behandelt.
So weit würde es Michael Brock nicht kommen lassen. Auch er ist obdachlos, hat gerade am Lerchensteig eine Unterkunft bekommen. „Das ist das Beste, was es gibt“, lobt der 45-Jährige des Arztmobil. In der vergangenen Woche hat sich der ehemalige Fremdenlegionär sogar „psychologisch auslassen können wegen meiner Kriegstraumata“. Fast eine Stunde habe eine Ärztin zugehört. „Das hat mir so gut getan“, sagt Brock.
Sein Lob teilen die Sozialarbeiter von „Creso“ und „Wildwuchs“, die unter anderem Obdachlose betreuen und im vergangenen Jahr auf die Notwendigkeit eines Arztmobils aufmerksam gemacht hatten. „Natürlich ist es schwierig, ein Vertrauensverhältnis aufzubauen. Aber wenn das gelingt, lässt sich auch präventiv viel mehr machen, weil die Hemmschwelle zum Arzt zu gehen nicht mehr so groß ist“, sagt Sozialarbeiter Ilja Kießling.
Bis Ende des Jahres wird das Projekt vom Potsdamer Klinikum finanziert. Müller-Preinesberger will das Angebot dauerhaft in Potsdam etablieren und hatte dabei auch auf Unterstützung der Krankenkassen gehofft. Bislang vergebens: Die Arbeitsgemeinschaft der Verbände der Krankenkassen im Land Brandenburg hätten das Engagement zwar gelobt und ihre Bereitschaft für innovative Kooperationen geäußert. Finanzielle Unterstützung gebe es aber nicht, weil eine medizinische Betreuung von Obdachlosen nicht zur gesetzlichen Aufgabe der Kassen gehöre. „Das ist falsch“, sagt Müller-Preinesberger. So seien ungefähr die Hälfte der Obdachlosen auch krankenversichert. „Hier sind noch weiterführende Gespräche mit den Kassen erforderlich“, betonte die Beigeordnete.
Oliver bleibt hingegen auf Kriegsfuß mit seiner Krankenkasse. „Im Arztmobil habe ich trotzdem die Chance, untersucht zu werden, ohne dass ich meine Karte abgeben muss“, sagt er.Peter Könnicke
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