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Landeshauptstadt: Tautropfen regnen auch bei Sonnenschein

Wetterbeobachtung seit 1893: Nun sollen Ralf Schmidt und Kollegen durch Automaten ersetzt werden – als ob das ginge

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Wetterbeobachtung seit 1893: Nun sollen Ralf Schmidt und Kollegen durch Automaten ersetzt werden – als ob das ginge Von Guido Berg Ralf Schmidt rechnet vor. Jede Stufe müsste 69,5 Zentimeter hoch sein. Das wäre einen halber Spagat bei jedem Schritt. Er wedelt mit dem Artikel einer Boulevard-Zeitung, der über die weltweit einzigartige Potsdamer Säkularstation berichtet. Da steht drin, der Wetterturm auf dem Telegrafenberg sei 114 Meter hoch und 164 Stufen führten hinauf. Dabei bringt es der Turm nur auf 33 Meter, liegt aber an seiner Spitze 114 Meter über dem Meeresspiegel. Der Autor hat den Zusatz „über dem Meeresspiegel“ vergessen. Und einen Hygrographen, einen Luftfeuchtigkeitsmesser, einen Hydrographen zu nennen, wie es der Schreiberling tat, kann Ralf Schmidt auch keineswegs als Kleinigkeit abtun. Der Teltower misst seit 1974 auf dem Telegrafenberg Temperaturen, Luftfeuchtigkeiten, Schneehöhen, Niederschlagsmengen und Windstärken. Auch beschreibt er die Wolken und die Fernsicht. Das kleine, am 1. Januar 1893 in Betrieb genommene Messfeld ist seine Welt. Ebenso der Wetterturm des alten Metereologischen Observatoriums, in dem er und sechs weitere Kollegen im Schichtdienst Wetterdaten in Computer eingeben und nach Offenbach senden, in die Zentrale des Deutschen Wetterdienstes. Alles ganz genau auf die Goldwaage zu legen ist nicht die Art von Ralf Schmidt. Aber sein Beruf erfordert es und seinen Beruf nimmt der 49-Jährige sehr ernst. Er achtet beim Ablesen sehr darauf, ob das Quecksilber seiner Thermometer schon einen neuen Messstrich erreicht hat oder noch nicht. An zwei je sechs Meter langen Holzstäben zieht er ein Thermometer aus zwölf Meter Tiefe herauf. „10,2 Grad“, liest er ab, „gestern waren es deutlich über 10,1 Grad, aber eben noch nicht 10,2“. Also hat er gestern 10,1 Grad notiert. Gestern war Montag. An jedem Montag seit 112 Jahren messen Schmidt und seine Vorgänger genau in dieser Weise die Kühle in der Erdtiefe. Wenn es noch nicht ganz und gar 10,2 Grad sind, dann sind es 10,1 Grad. So abzulesen mag richtig oder falsch sein. Das ist völlig egal. Wichtig ist, dass es über alle Jahrzehnte hinweg genauso falsch oder richtig gemacht wurde. Und vor allem ist es wichtig, dass es noch weitere Jahrhunderte genau so gemacht wird. Doch der Deutsche Wetterdienst muss Personal sparen, Automaten sollen die Arbeit von Ralf Schmidt und den Kollegen übernehmen. Können sie aber nicht, findet Ralf Schmidt und findet auch Professor Friedrich-Wilhelm Gerstengarbe vom Potsdamer Institut für Klimafolgenforschung (PIK), dem Hauptnutzer der Daten der Säkularstation. Schmidt sagt, ein Automat kann per Laserstrahl zwar exakt die Wolkenhöhe messen, „doch er sieht nicht, ob es gänzlich bedeckt ist oder ob er mit seinem Strahl nur ein einzelnes Wölkchen erwischt“. Prof. Gerstengarbe erklärt, alle anderen Messreihen auf der Welt hätten Lücken, die Potsdamer nicht. Bis 2009 sollen Mensch und Maschine im Probebetrieb parallel die Daten erheben. Fällt ab diesem Zeitpunkt der Mensch weg, beginne eine neue Messreihe, die alte sei dann beendet. Automaten könnten nicht das leisten, was der Mensch leistet, nicht bei der Wetterbeobachtung. Gerstengarbe nennt ein Beispiel, das ihm Karsten Schwanke erzählt hat. Wenn der bekannte Fernseh-Wetteransager früh vor die Tür trete und einen wolkenlosen blauen Himmel sehe, meldeten ihm dennoch viele seiner automatischen Wetterstationen Niederschlag. Wo kommt der her? Des Rätsels Lösung: Es ist der Tau, der morgens von den Spinnweben in die Messtrichter tropft und dem Automaten fette Regentropfen vortäuscht. Spinnweben, sagt Stationsleiter Schmidt, machen wir gleich weg. Bei Automaten-Messkästen aber, die nur wenige Male im Jahr gewartet werden, sind die Spinnen ungestört. Klimaforscher, die in späteren Jahren die Daten auswerten, werden also in ihren Klimamodellen mit Regen rechnen, wo Sonnenschein war. Das will Prof. Gerstengarbe verhindern, am 28. September gründeten er und andere die Reinhard-Süring-Stiftung, mit deren Erlösen dann ab 2009 die Messreihe fortgesetzt werden soll. Gerstengarbes Augen glänzen, „Süring“, sagt er, „war ein Phänomen“. 1901 stieg er mit einem Wetterballon erstmals auf 10500 Meter Höhe auf. Eigentlich waren es 10700 Meter, doch die Tinte des Höhenschreibers fror ein. Doch geehrt wird der Potsdamer Meteorologe wegen einer anderen Mutestat. Am 20. April 1945 wurde das Personal des Meteorologischen Observatoriums auf dem Telegrafenberg abgezogen, für den „Endkampf“ gegen die anrückende Rote Armee. Die letzte Wetterbeobachtung erfolgte um 7Uhr. Die Messreihe drohte zu unterbrechen. Am 24. April gelang es dem 79-jährigen Professor Süring, sich bis zum Telegrafenberg durchzuschlagen und die Wetterbeobachtungen wieder aufzunehmen. Die Lücke von drei Tagen überbrückte er mit Beobachtungen, die er in der Kastanienallee machte. Die Temperaturmessung in zwölf Meter Tiefe blieb zunächst ununterbrochen. Ein Montag, der Tag für die Tiefenmessung, war zwischen dem 21. und dem 24. April 1945 nicht dabei. Einen Ausfall gab es erst am 13. November 1972, „beim stärksten Sturm, den Potsdam je erlebt hat“, erklärt Schmidt, während er die beiden sechs Meter langen Holzstangen wieder miteinander verbindet und in die Erde versenkt. Um 12.50 Uhr wehte der Wind mit einer Geschwindigkeit von 40,2 Metern pro Sekunde oder 145 Kilometer pro Stunde. Das hätte die Meteorologen glatt vom Messfeld gefegt. Ihm selbst liegt „Aktionwetter“ – also Regen, Graupel, Sturm – mehr als „Wäschewetter“. Bei Sonnenschein und lauem Wind könne man als Wetterfrosch „gleich zu Hause bleiben und Wäsche waschen“. „Ende Januar wird in zwölf Meter Tiefe 11 Grad gemessen“, erklärt Schmidt. Die Winterkälte braucht ein halbes Jahr, um unten anzukommen, deshalb sind es dort Ende Juli nur 9 Grad. Der Stationsleiter führt die 164 Stufen des alten Observatoriumsturms hinauf. Im kommenden Jahr wird das Institut für Klimafolgenforschung in das bis dahin sanierte alte Forschungsgemäuer einziehen. Oben auf dem Messplateau sagt Schmidt: „Jetzt sind wir die Höchsten von Potsdam.“ Nur der Feuerwachturm in den Ravensbergen ist höher, aber der ist im Herbst nicht besetzt.Vom Turm aus haben die Wetterdienstler beste Bedingungen für die Augenbeobachtung von Wolken und Sichtweiten. Aus der Mitte des Turms ragt ein Stahlmast noch weitere sieben Meter in die Höhe. An seiner Spitze drehen sich flink mehrere Windmesser. Sie gehören ebenso zur historischen Messreihe wie ein Sonnenschein-Autograph, eine gelbe Vollglaskugel, die als Brennglas wirkt und bei Sonnenschein eine kleine Brandspur auf einem Messstreifen erzeugt. Fällt im Winter Schnee darauf, wischt ihn Ralf Schmidt einfach weg. Im Turmzimmer, der eigentlichen Wetterwarte, sitzen Iris Bramann und Rainer Weist. Sie tippen die aktuellen Wetterdaten in ihre Computer. Ihr Chef surft auf die Homepage des Wettervoraussage-Turniers der Freien Universität Berlin. Für Zürich hat Schmidt letztes Wochenende einen zweiten Platz erreicht. Es machen auch viele studierte Meteorologen mit, denen er, der Wetterdiensttechniker, schon mal zeigt, wo es wirklich regnet. Für Berlin hatte er aber den Sonnabend-Niederschlag nicht gesehen. Er landete im Mittelfeld. „Aber in Wien bin ich Siebenter geworden“, triumphiert Schmidt. Schon auf dem Schulhof hielt er ständig den Finger in die Luft und prüfte, woher der Wind kommt. „Ralf, wie wird das Wetter?“, fragten die Lehrer vor jedem Wochenende. Wetter, das ist Leidenschaft. Und nichts für Automaten.

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