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SAMSTAGScocktail: Terra X

Es existiert eine verborgene Karte dieser Stadt. Mit tausendeinhundert Markierungen darauf, winzige rote Quadrate, die keine touristischen Höhepunkte bezeichnen, sondern Wohnungen.

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Es existiert eine verborgene Karte dieser Stadt. Mit tausendeinhundert Markierungen darauf, winzige rote Quadrate, die keine touristischen Höhepunkte bezeichnen, sondern Wohnungen. Wohnungen, die der Geheimdienst vor 1989 zu konspirativen Zwecken nutzte. Besprechungen, Beobachtungen, hin und wieder ein kleines Verhör. Manfred, wir müssten Montag um elf mal wieder rein bei dir. Geht klar, den Schlüssel habt ihr ja. Wenn die Ehefrau von der Arbeit kam, wunderte sie sich. Dieser seltsame Geruch, Rauch? Kaffee? Wie wenn jemand versucht hatte zu lüften, ohne dass es ihm wirklich gelungen war. Manfred? Hm? Was riecht’n hier so? Ich riech nichts. Tausendeinhundert.

Seitdem ich die Karte kenne, vor allem, seitdem ich gesehen habe, dass sich links und rechts von meinem Haus besonders viele rote Quadrate finden, blicken mich die Fenster um mich herum anders an. Ich wohne in der Feuerbach. Jeder, dem ich sage, wo ich wohne, sagt, schön! Selbst die Zugezogenen erzählen inzwischen kennerisch, dass es die Straße ist, in der die Bäume als erste ausschlagen. Ein herrlich grüner Blättertunnel jedes Mal Anfang April. Von der Karte wissen meine Nachbarn, die aus Stuttgart, Bremen oder Plauen stammen, natürlich nichts. Einer von ihnen ist mein ehemaliger Romanistik-Professor. Als er vor zwanzig Jahren aus Süddeutschland hierherkam, fand er in einem Einbauschrank seines Universitätsbüros in der einstigen Stasi-Hochschule in Golm einen seltsamen Apparat vor. Nach einigem Ausprobieren stellte sich heraus, dass er damit Stimmen empfing. Etwas knarzend zwar, aber klar genug, um zu erkennen, dass es sich um ein Gespräch in einem Büro vier Stockwerke über ihm handelte, damals gerade frisch umfunktioniert zum Sekretariat der Germanistik. Hatte man irgendwie vergessen auszubauen, das Ding (was schleunigst nachgeholt wurde). Dieses Relikt fiel mir neulich abends wieder ein, als ich den Müll in den Hof trug. Die harmlos erleuchteten Fenster der sanierten Hinterhäuser um mich herum, sie halten dicht. Längst vergessen, was war. Es bräuchte ein Konserventelefon, dachte ich, eine Schnur und an jedem Ende eine Büchse, zwischen die Häuser gespannt. Mit einer solchen archaischen, aus der Zeit gefallenen Apparatur wäre es vielleicht noch zu hören, das leise Schaben und Knarzen der Vergangenheit.

Unsere Autorin lebt in Potsdam. Zuletzt erschien von ihr der Roman „Mit der Geschwindigkeit des Sommers“.

Julia Schoch

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