Von Guido Berg: Über 4000 Zwangssterilisations-Urteile
Antasten der Würde des Menschen: Am ZZF wird erstmals speziell zum Erbgesundheitsgericht in der Lindenstraße 54 geforscht
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64 Jahre nach der Schließung des Erbgesundheitsgerichtes Potsdam wird die einstige nationalsozialistische Einrichtung in der Lindenstraße 54 erstmals umfassend wissenschaftlich erforscht: Acht Monate lang arbeitet Dr. Petra Fuchs im Auftrag des Potsdamer Zentrums für ZeithistorischeForschung (ZZF) an dem Projekt, das aktuell bis Mitte 2009 vom Landesforschungsministerium und dem Bund finanziert wird. Was sich der Berliner Historikerin bis dato offenbarte, ist der Potsdamer Öffentlichkeit in Dimension und Ungeheuerlichkeit völlig unbekannt: Von seiner ersten Sitzung am 10. März 1934 bis zur Schließung im November 1944 wurden in der Lindenstraße 54 eigenen statistischen Erhebungen des Gerichts zufolge genau 4120 Fälle verhandelt. Vor dem Richter und zwei Ärzten als Beisitzer standen zumeist kranke, behinderte und „sozial unerwünschte“ Menschen; fast alle von ihnen verurteilte das Erbgesundheitsgericht zur Zwangssterilisation, zur Unfruchtbarmachung. Die Urteile basieren auf das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ von 1933, welches die Sterilisation ab dem 10. Lebensjahr ermöglichte. Dr. Petra Fuchs sichtete 130 Personalakten, die im Brandenburgischen Landeshauptarchiv liegen, sowie 300 zusätzliche Beschlüsse nach einem Widerspruchsverfahren am Erbobergesundheitsgericht in Berlin-Charlottenburg. Noch nicht eingesehen hat die Historikerin 400 Akten zu Potsdamer Verfahren, die das Gericht in der Lindenstraße 54 im Zuge seiner Schließung Ende 1944 an das Erbobergesundheitsgericht abgab.
Vollzogen wurden die Urteile durch ärztliche Eingriffe in den dafür bestimmten Krankenanstalten in Potsdam und Umgebung, unter anderem im Kreiskrankenhaus Nowawes und im städtischen Krankenhaus Potsdam. Verurteilt zur Kinderlosigkeit wurden nahezu zu gleichen Anteilen Männer wie Frauen. Das jüngste Opfer, das Dr. Petra Fuchs fand, ist ein Mädchen im Alter von elf Jahren.
Die hohe Zahl von über 4000 Verfahren am Potsdamer Erbgesundheitsgericht geht auf den von rassehygienischen Maßnahmen überzeugten Leiter der Landesanstalt Potsdam, Hans Heinze, zurück. Mehr als 800 Anträge wurden bis Ende 1935 aus den Anstalten Potsdam und Görden gestellt. Nach der Schließung der Potsdamer Anstalt 1938 leitete Heinze die Landesanstalt in Brandenburg-Görden. Heinze zeigte die Patienten seiner Anstalt regulär und in Serie beim Erbgesundheitsgericht Potsdam an, darunter viele Kinder und Jugendliche. Die Anstalt Görden hatte eine starke Kinder- und Jugendpsychiatrische Ausrichtung.
Hans Heinze ist der Historikerin zufolge auch eine zentrale Figur der Behinderten- und Krankenmord-Aktion „T4“. Der staatliche, von Hitler angeordnete Massenmord, verbrämt im Mantel der Euthanasie, des „gewährten Gnadentodes“, so Hitler in einer schriftlichen Anweisung, ist benannt nach der Zentrale in der Berliner Tiergartenstraße 4. Dr. Petra Fuchs zufolge ist erwiesen, dass Hans Heinze an „Probevergasungen“ in Brandenburg-Görden teilnahm. Etwa 10 000 Kranke und Behinderte wurden dort mit Kohlenmonoxid-Gas ermordet, 70 000 in Deutschland insgesamt. Nach kirchlichem Unmut und Protesten aus der Bevölkerung über die organisierte massenweise Verlegung von Patienten ohne Wiederkehr stellte der NS-Staat die T4-Aktion offiziell ein. „Es gibt Überschneidungen“, so Dr. Fuchs: Einige Patienten wurden zunächst nach Potsdamer Urteilen sterilisiert und später Opfer von T4.
Beim Durchsehen der Potsdamer „Sterilisationsakten“ fiel der Historikerin auf, „wie normal" die Verurteilung zur Unfruchtbarmachung von Menschen war: „ein sehr sachlicher, verwaltungstechnischer, bürokratischer Akt“. Gegen das Erbgesundheitsgesetz von 1933 gab es wenig Widerstand; auch deshalb, weil es 1932 schon voll ausformuliert vorlag. „Die Nationalsozialisten haben bloß noch den Zwangsparagraphen hinzugefügt“, erklärt Dr. Petra Fuchs.
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