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Homepage: Über die Lust am Lesen und am Schreiben Die Philologie: Das Stiefkind der Universität?

Unter den wissenschaftlichen Disziplinen gibt es zwei, die in ihrem Namen den griechischen Begriff für Liebe tragen, die Philosophie und die Philologie. Zwar konnte die Philosophie bis heute trotz starker naturwissenschaftlicher Konkurrenz ein gewisses Ansehen bewahren.

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Unter den wissenschaftlichen Disziplinen gibt es zwei, die in ihrem Namen den griechischen Begriff für Liebe tragen, die Philosophie und die Philologie. Zwar konnte die Philosophie bis heute trotz starker naturwissenschaftlicher Konkurrenz ein gewisses Ansehen bewahren. Doch die Philologie erscheint nicht zuletzt unter dem Einfluss der audiovisuellen Medien zunehmend als Stiefkind der Universität. Dabei kam ihr als Lehre und Erforschung des sprachlich literarischen Inventars einer Gesellschaft noch bis zur Mitte des vergangenen Jahrhunderts ganz selbstverständlich eine Deutungshoheit des Weltverständnisses zugute. Heute dient die Philologie in den Augen ihrer Kritiker oft nicht mehr als eine Art Assistentin beim Sprachenerwerb. Dass damit ihre wahren Qualitäten weit unterschätzt sind, möchte der renommierte Potsdamer Romanist Ottmar Ette in seiner neuen Monographie zeigen. Unter dem mehrdeutigen Titel „ÜberLebenswissen“ beschwört Ette nicht nur die Traditionen seines Faches, sondern gibt eine hoffnungsvolle Zukunftsvision. Am Ausgang der Moderne sieht Ette die spezifischen Talente der Philologie darin, geisteswissenschaftliches und naturwissenschaftliches Denken miteinander zu verbinden. Kein Geringerer als Alexander von Humboldt dient dabei als Leitfigur, keineswegs der „letzte Universalgelehrte“, wie es so oft heißt, sondern als Begründer einer fächerübergreifenden Wissenschaft und Lehre. In dieser hintergründig bezeichneten „Humboldtian Science“ geht es nicht um das schon zum Schlagwort gewordene Konzept der Interdisziplinarität, sondern um eine frei bewegliche, transdisziplinäre Vernetzung von Wissen aller Art, praktisches, theoretisches, alltägliches und fachliches. Es ist wohl kein Zufall, dass die packendsten Beispiele für das „ÜberLebenswissen“ der Philologie aus dem dunkelsten Abschnitt des 20. Jahrhunderts stammen. Einige der bedeutendsten Werke der deutschen Romanistik entstanden im Angesicht der Nazi-Diktatur und künden davon, nicht explizit, sondern quasi zwischen und hinter den Zeilen. Bis heute ist Erich Auerbachs Studie über die dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur mit dem Titel „Mimesis“ ein Weltbestseller. Ebenso wie Auerbach musste Leo Spitzer in den dreißiger Jahren emigrieren. Der Verfasser faszinierender literarischer Stilstudien publizierte bereits 1946 einen wegweisenden Aufsatz über „Das Eigene und das Fremde. Philologie und Nationalismus“, der auch als humane Geste der Hoffnung auf eine nicht von nationalen Egoismen geprägte Zukunft gültig bleibt. Spitzer definierte darin die Philologie als „Wissenschaft, die den Menschen zu verstehen sucht, soweit er sich im Worte und in Wortgebilden äußert“. Eine Sonderstellung nimmt der Romanist Werner Krauss ein, der nicht nur wertvolle literaturwissenschaftliche Werke schrieb, sondern als zum Tod verurteilter Antifaschist während der Gestapohaft in Berlin Plötzensee einen sarkastischen und wie Ette schreibt bis heute unterschätzten Roman verfasste. In PLN, so der chiffrierte Titel, geht es um eine alptraumhafte Staatsdiktatur, denen sich eine kleine Gruppe von subversiven Frevlern in einem „Bund für unentwegte Lebensfreude“ widersetzt. Dieser Roman, den der Autor „ein gefesseltes Buch, das in Fesseln geschrieben wurde“ nannte, verknüpft Leben und Literatur, persönliche Erfahrung und literarische Überlieferung äußerst intensiv und vieldeutig. In der Todeszelle wurde die Literatur zum Lebensmittel, literarische Stil- und Parodiekünste, die Reflexionen des spanischen Moralisten Gracián und anderes bildeten die Quelle des Überlebenswissens von Werner Krauss, dem es gelang, sein Todesurteil nachträglich wegen „absoluter Unzurechnungsfähigkeit“ abzuwenden. Diese und andere Texte geben einen bezwingenden Eindruck von der Lust zu lesen (und zu schreiben), der „plaisir du texte“, wie der Philosoph Roland Barthes schillernd und unübersetzbar formulierte. Die historische Lehre vom mehrfachen Textsinn kann zumindest als Methode auch in der Moderne nützlich sein. Es liegt an der Philologie, die beweglichen, multizentrischen und facettenreichen Fadenläufe zwischen dem Menschen, dem Wissen und seiner Zeit zu verdeutlichen. Solange sie dabei so liebevolle, kundige und wortgewandte Fremdenführer wie Ottmar Ette besitzt, muss um ihre Zukunft nicht gebangt werden.

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