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25 Jahre Mauerfall: „Überall war Öffentlichkeit“
Die Stasi wirkte in den Familien. Durch sie rekrutierte sie. Durch sie übte sie Macht aus. Manche zerstörte sie. Ein Essay über das Reden.
Stand:
Er hat mich zuerst erkannt und sich unwillkürlich weggeduckt, sonst wäre er mir gar nicht aufgefallen. Ein Schulkamerad, wir haben uns an die 20 Jahre nicht gesehen. Die plötzliche Bewegung hab ich aus dem Augenwinkel registriert, ich gehe auf ihn zu, er, noch in geduckter Haltung, tut jetzt so, als würde er etwas suchen. Kein guter Schauspieler. „Hey, wie geht’s denn?“ Ich habe seinen Namen vergessen. Jetzt spielt er Überraschung. Was ist los mit dem, frage ich mich, warum verbirgt der sich so kindisch?
Wir waren nie befreundet gewesen, ich habe ihn als zackigen Sportler in Erinnerung, jetzt wirkt er gebrochen. Er will, dass ich weitergehe und will mich nicht gehen lassen. Ständig sieht er sich um, als wäre er auf der Flucht. Platzt heraus und unterbricht sich, als wäre da ganz viel, das herauswill und daran gehindert werden muss. Dann stehen wir stundenlang auf der Mole, er erzählt immer flüssiger, als fände ein angestauter Bach seine Bahn. Statt baden zu gehen, tauche ich in das Leben eines Stasimannes meiner Generation und sehe, wie es ihn erleichtert, irgendwann lacht er sogar: „Ja, damals auf der Penne, da war noch alles offen. Schien wenigstens so.“ In Spuren erkenne ich nun wieder den stolzen, feschen Kerl, der er in der Schule war, auch die alte Selbstherrlichkeit. Nun verhalte ich mich professionell, harre aus, obwohl er mir unsympathisch wird, der mit seinen Stasi-Storys prahlt, sobald er Vertrauen gefasst hat. Als wäre ich einer von ihnen gewesen. Ich habe nicht für die Stasi gearbeitet, aber unsere Lebensgeschichten sind sich auch nicht so fern, wie ich es gern hätte. Wir verabreden uns zum Interview.
Den ganzen Essay von Martin Ahrends lesen Sie in der WOCHENAUSGABE der POTSDAMER NEUESTEN NACHRICHTEN
Seit 25 Jahres sammle und publiziere ich ostdeutsche Lebensgeschichten (Passagen aus dem neuen Buch sind hier kursiv gesetzt); manchmal konnte ich damit etwas in Fluss bringen: in den Zeitzeugen, in den Lesern, in mir. Manchmal war es wie ein Dammbruch. Ich erinnere mich an den „Opernbrandstifter von Frankfurt“, den ich 1988 im Gefängnis von Schwalmstadt besucht habe. Während des Prozesses hatte er seine wahren Motive verschweigen müssen, nun, da er in Sicherheit war und ich keinerlei Aufzeichnungen machen durfte, konnte er endlich mal was gucken lassen, und es brach aus ihm heraus, ein Schwall von allzu lang Verschwiegenem, sein ganzes schmutziges Stasi-Leben flog mir um die Ohren. Wie benommen tappte ich danach durch den sommerlichen Tag, glaubte zuerst, eine Sensationsstory anbieten zu können und wusste bald, das glaubt mir niemand: ein Liebesmord, den seine „Firma“ nicht decken wollte, weshalb er vor seinen tamilischen Verfolgern in den sicheren Knast floh, mittels Selbstanzeige als Opernbrandstifter… Wie das da ohne erkennbares Kalkül aus ihm herausgebrochen kam, hatte es durchaus seine Stimmigkeit gehabt.
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