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Landeshauptstadt: Überleben in der Haut des Feindes

Sally Perel erzählte Potsdamer Schülern von seiner einzigartigen Geschichte. Es ist die des „Hitlerjungen Salomon“

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Die Morgensonne erhellt das Klassenzimmer und streichelt sein graues Haar. In der Szene über Leben und Tod im Film „Hitlerjunge Salomon“ scheint die Sonne im entscheidenden Moment ebenfalls auf ihn. Als ob Gott es will, dass er lebt. Die Schüler der Zeppelinschule verstehen diesen Regiestreich so und Sally Perel nickt. Die F.C. Flick Stiftung hat es dem 81-jährigen Zeitzeugen ermöglicht, gemeinsam mit den Sechstklässlern eine Reise in die Vergangenheit zu machen. Die ersten Bilder seiner Lebensgeschichte sind tatsächlich hell und leuchtend. Die zehn Jahre seiner Kindheit in Peine bei Braunschweig waren glückliche Jahre, „grün“ erscheinen sie in seiner Erinnerung. Doch Sally Perel ist Jude, nach dem Machtantritt Hitlers fliegt er von der Schule. „Warum?“, fragt er damals den Direktor verständnislos. Er hat in allen Fächern „sehr gut“, außer im Singen. Heute würde er hinzufügen: „Welche Schuld trage ich von Geburt an?“ Niemand könne was für seine Geburt, sagt er, Mutter und Vater entscheiden, „wir wurden nicht gefragt“. Die Schüler schmunzeln.

Sally, das ist die Kurzform von Salomon, konnte nur wenige Jahre zur Schule gehen. Nach einer Lesung aus seinem Buch „Ich war Hitlerjunge Salomon“ im Reclam-Gymnasium Leipzig ernannten ihn die dortigen Schüler zum „Ehrenschüler des Gymnasiums“. Damit haben sie „alles wieder gut gemacht, was ich im Leben erlitten habe“.

Die Familie Perel flieht ins polnische Lodz. Vergebens. 1939 überfällt die Wehrmacht das Nachbarland. In kurzer Zeit sind sie wieder der Judenverfolgung ausgesetzt. Die Eltern entscheiden, dass Sally und sein älterer Bruder Isaak weiter nach Osten fliehen. Ins sowjetisch besetzte Ostpolen. Bei der Verabschiedung sagt sein Vater: „Vergiss nicht, wer du bist!“ Eine feste Identität kann eine feste Burg sein in schlimmen Zeiten. Aber es wäre sein Todesurteil gewesen. Zwei Jahre später wird der 14-Jährige bei Smolensk von der vorrückenden Wehrmacht eingeholt. Selektion auf offenem Feld. Juden werden sofort erschossen. Seine Mutter sagte auch Worte zum Abschied, genau drei: „Du sollst leben.“ Sally Perel ist an der Reihe. Keiner kann sich vorstellen, in wenigen Minuten erschossen zu sein. „Nicht wahr?“ Alle nicken, auch die Lehrerin. Nichts von Sonne in diesem Moment, doch Überlebenswille übermächtigt ihn, erinnert er sich. Er folgt dem Rat der Mutter. „Bist du Jude?“ Mit den Händen im Genick, doch ohne zu zögern und mit fester Stimme antwortet er dem Soldaten: „Ich bin kein Jude. Ich bin Volksdeutscher.“

Juden sind beschnitten. Die Peiniger hätten ihm die Hose vom Leib zerren können wie bei vielen anderen, die für die Notlüge geohrfeigt wurden vor dem Tod. Doch Sally Perel glauben sie auch so.

Der Zeitzeuge nennt Zahlen und Daten. Sechs Millionen Juden wurden vergast. 1. September 1939, Überfall auf Polen. Bei jeder Zahl ziehen die Schüler die Schutzkappen von den Stiften, klack, klack, und notieren sie.

Der „volksdeutsche“ Junge kommt auf eine Hitlerjugendschule in Braunschweig. Er, ein getarnter Jude, muss aufpassen, immer. Einmal ertappt er sich, wie er mit dem Finger einen Davidstern auf die beschlagene Fensterscheibe malt. Erschrocken wischt er ihn weg. Er darf sich nicht in Anwesenheit anderer baden. Warum nicht? „Dann würde man sehen, dass Sie beschnitten sind“, antwortet eine Schülerin.

Ein homosexueller Offizier bedrängt ihn im Bad und entdeckt, dass er Jude ist. Doch er tut ihm nichts, tröstet ihn, der sich nun Josef nennt: „Jupp,“ – so sein Spitzname – „es gibt auch ein anderes Deutschland“. Sie werden Freunde. „Die schönste Freundschaft des zweiten Weltkrieges.“

Das Gift tropft täglich in sein Hirn. Nationalsozialistische Ideologie. Wie er das durchhalten konnte, die doppelte Identität? So fragten ihn nach 1945 seine Kameraden, die er wiedertraf. Die Antwort verblüfft und ist das Wertvollste, was alle späteren Generationen vom Hitlerjungen Salomon lernen können – das Wissen um die gefährliche Manipulierbarkeit des jungen Menschen. „Denkt selber“, ruft er den Schülern zu, „um nicht programmiert zu werden wie die Roboter.“ Sally Perel hört auf, die Rolle zu spielen. „Ich wurde ein Hitlerjunge.“ Während seine Glaubensbrüder vergast werden in Auschwitz schreit er begeistert „Heil Hitler!“ und „Sieg heil!“. Dabei war „die Vernichtung meines Volkes ihr Sieg“. Der Hitlerjunge lebe immer noch in ihm, er wolle ihn loswerden, aber er liebe ihn auch, „schließlich hat er mich mit seinen Hakenkreuzen gerettet“.

Die nackte Angst packt ihn, als die „äußeren Merkmale eines Juden“ behandelt werden. Hakennasen, Plattfüße. Erkennen sie ihn? Natürlich nicht. Einmal ruft ihn der Lehrer nach vorn und nennt ihn ein gutes Beispiel für einen „Arier von der ostbaltischen Rasse.“ Er überlebte, sagt er heute „in der Haut des Feindes“. Ob er verzeihen könne, wird er gefragt. „Ich verzeihe nicht“, sagt er, denn er habe der deutschen Jugend nichts zu verzeihen. „Schuld ist nicht erblich“. Sally Perel: „Ich will nicht euer Gedächtnis beschweren, sondern euren Verstand erleuchten.“

Sein Vortrag dauert zwei Stunden. Er hält ihn wieder und wieder. Seit Jahren. Nach der Zeppelinschule beginnt er in der Rosa-Luxemburg-Schule von vorn. Selten aber nur benutzt er die gleichen Sätze. Situationen, die er in der einen Schule nur streift, zoomt er in der anderen heran und lässt Details erkennen. Die schussbereiten Maschinengewehre auf den Kradbeiwagen auf dem Feld bei Smolensk. „Ich hörte die Schüsse der Exekutionen aus dem Wald.“ Er ist müde, doch er erzählt seine Geschichte wie zum ersten Mal. Die Emotionen, die Ängste, die Hoffnungen, sie sind immer da, abrufbar, kontrollierbar nach einem erfüllten Familien- und Arbeitsleben in Israel – aber sie sind da. Er erzählt von den eineinhalb Millionen jüdischen Kindern, die vergast wurden, einem Schicksal, dem er entging. Er spricht von ihren Schreien in den Gaskammern, von ihrem Schweigen Minuten später. „Ich möchte euch impfen mit den Tränen dieser Kinder“, sagt er unumwunden.

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