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Landeshauptstadt: Und immer stiller und stiller

Vor 20 Jahren ertaubte Jürgen Koppatz, ein schwieriger Weg in die absolute Geräuschlosigkeit

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Vor 20 Jahren ertaubte Jürgen Koppatz, ein schwieriger Weg in die absolute Geräuschlosigkeit Daumen und Zeigefinger regulieren Jürgen Koppatz“ Stimme. Führt seine Frau Judith die beiden Finger langsam zusammen, dann weiß er, dass er leiser sprechen muss. Gehen Daumen und Zeigefinger auseinander, spricht Jürgen Koppatz lauter. Spielerisch leicht funktioniert hier, worüber wir uns kaum noch Gedanken machen. Wir hören und wissen, fast immer, ob wir lauter oder leiser sprechen müssen. Jürgen Koppatz braucht dafür die Finger seiner Frau. Koppatz ist einer von gut 200 Tauben in Potsdam. Ein Spätertaubter, wie er erklärt. Für ihn gab es einmal die Geräusche dieser Welt. Die Stille, diese absolute Lautlosigkeit, kam erst später, dann aber unerbittlich und unaufhaltsam. Eigentlich ist dies ein Tag wie jeder andere. Doch heute hören wir genauer hin. Die Gesprächsfetzen, das Schieben der Stühle am Nebentisch, Geschirrgeklapper, die ständigen Schritte, mal laut von hektischen Hackenschuhen, mal leise von gemächlichen Turnschuhen, all das was uns täglich, oft kaum noch wahrgenommen umtönt, erreicht Jürgen Koppatz nicht mehr. Vor 40 Jahren begann bei dem 73-Jährigen der Weg in die Stille. Ein Hörsturz vielleicht, mit dem alles anfing, Koppatz kann es nicht genau sagen. 1945, nach der Schule, ging Koppatz erst einmal arbeiten. Als Ungelernter auf dem Bau, weil er hier gutes Geld verdienen konnte. Doch erwartete, forderte er mehr vom Leben. Ins Museum führte ihn sein Weg. 1957, dann ein wichtiges Jahr: Tochter Barbara kam zur Welt, ein Jahr nach ihrem Bruder Michael. Jürgen Koppatz ging nach Wittstock um das dortige Heimatmuseum aufzubauen. Gleichzeitig begann er mit einem Geschichts-Fernstudium. Es war auch die Zeit, in der es anfing langsam stiller um ihn zu werden. Von Jahr zu Jahr wurde es schlechter. Eine Zeit lang half ein Hörgerät. Doch immer häufiger blieben an ihn gerichtete Fragen unbeantwortet. Dann, nach etwa 20 Jahren, war die Stille absolut. Am Fernseher den Ton ausstellen und nur die Bilder beobachten. So ungefähr muss Jürgen Koppatz diese Welt erleben. Wo die Ohren den Dienst versagen, da werden die Blicke tiefer. Manches sieht er schneller, vieles anders, ist sich Koppatz sicher. Dass der Verlust eines der Sinne die anderen verstärkt, kann er nicht bestätigen. Er war gezwungen, sich anzupassen. Seine Augen sind nun auch Ohren. Ihm fehlt zwar das Geräusch, doch hat er die Bewegung. Das Sprechen hat Koppatz nicht verlernt, genauso wenig wie seinen Humor. „Ich hätte stolpern können“, blickt er zurück. Vögel, die für ihn stumm bleiben. Seine Frau, seine Kinder, deren Stimmen er nie mehr hören wird. Die Musik, die er, der selbst Kontrabass spielte, so liebt, nur noch Erinnerung, manchmal hätte Koppatz verzweifeln können. Doch ein guter Witz und die niederdeutschen Verse von Fritz Reuter (1810-1894) haben ihn immer wieder davor bewahrt, in das berüchtigte Loch zu fallen, sich zu isolieren. Jürgen Koppatz wurde auch gefordert. 1961 kam er aus Wittstock zurück nach Potsdam um im Museum in der Breiten Straße zu arbeiten. Der Spezialist für Münzen fand hier eine Tätigkeit bis zu seinem 65. Lebensjahr. Seine zunehmende Schwerhörigkeit, die spätere Taubheit waren kein Problem. Manchmal beneideten ihn seine Kollegen. Diskussionen, wortwechsellastige Sitzungen blieben ihm erspart. Du hast es gut, haben sie gesagt, erinnert sich Koppatz, dich erreicht vieles erst, wenn die Diskussionen vorbei sind. Doch gerade dieses Diskutieren fehlt ihm bis heute. „Ich musste lernen, viel mit mir selbst auszumachen.“ Probleme, ob die eigenen oder die seiner Kinder, das oftmals schnell klärende Gespräch gab es so nicht mehr. Seine Frau Judith, die Koppatz als die wohl wichtigste Stütze in seinem Leben als Spätertaubter bezeichnet, erlernte die Daktylzeichen, das so genannte Fingeralphabet. So spricht sie mit ihm, per Handzeichen oder notfalls mit Stift und Papier. Judith Koppatz, die ihren Beruf als Kindergärtnerin aufgab, sich zur Physiotherapeutin ausbilden ließ, nur noch halbtags arbeitete, um so der neuen Situation in der Familie gewachsen zu sein, erlebt ihren Mann mehr lachend, denn trübsinnig. Seine Behinderung, die für Außenstehende nicht erkennbar ist, ist zwar hinderlich, doch behindert sie ihn nicht. Koppatz geht seinen Weg, wenn manchmal auch auf kleinen Umwegen. Er hat zwar sein Gehör verloren, seine Lebensfreude, trotz mancher Tiefs, jedoch nie. Jammernd wird man ihn nicht erleben, eher singend, obwohl er sich nicht mehr hört. „Er singt die Lieder ohne falschen Ton“, staunt Judith Koppatz immer wieder. „Gelernt ist gelernt“, so Koppatz“ trockene Erklärung. Wenn er singe, dann aber nur Zuhause, wo ihn kaum jemand höre. Und da interessieren dann auch Daumen und Zeigefinger nicht. Dirk Becker

Dirk Becker

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