SAMSTAGScocktail: Unser Weg
Er scheint immer den gleichen Weg zu gehen. Aber dasselbe könnte er auch von mir behaupten, da ich ihm immer an der gleichen Kreuzung begegne.
Stand:
Er scheint immer den gleichen Weg zu gehen. Aber dasselbe könnte er auch von mir behaupten, da ich ihm immer an der gleichen Kreuzung begegne. Er geht sehr langsam, eine Art vorsichtiges Schlurfen. Sein greisenhafter Gang steht im Widerspruch zu dem weichen, fülligen Kinderkörper, der schon vor zwanzig Jahren Mühe hatte, einen Ball zu fangen oder eine Rolle vorwärts zu machen. Mit winzigen Schritten bewegt er sich über die Straße, durch den Verkehr hindurch, bis er es in die Mittelstreifenallee geschafft hat, wo er ungestört langsam sein kann. Es wäre falsch, zu behaupten, er wäre nicht mehr wiederzuerkennen. Im Gegenteil. Abgesehen davon, dass jetzt alles an ihm grau ist, seine Haut, die Haare grau, wie überzogen von einer Schicht Bauschuttstaub, ist seine Gestalt genau dieselbe wie zu der Zeit, als er neben mir im Klassenzimmer saß. Er war intelligent. Eine Intelligenz, die ihn außerhalb jeder Konkurrenz stellte. Dass er bei schriftlichen Kontrollen immer und in jedem Fall die beste Note bekam, erregte nach anfänglicher Irritation keinerlei Neid mehr. Das Mündliche hingegen war eine Tortur für ihn. Er sah den Leuten nur ungern ins Gesicht. Wenn er eine Frage beantworten sollte, senkte er den Kopf noch tiefer, rieb sich die Augen hinter den Brillengläsern und murmelte so leise, dass man nicht verstand. Manche Lehrer zitierten ihn genüsslich an die Tafel, weil sie wussten, dass er nur unter Schmerzen in der Lage war, vor versammelter Menge zu sprechen, ja überhaupt die Stimme zu benutzen. Wir Mitschüler waren ähnlich sadistisch-ignorant und hielten ihn für einen Freak, aber damals benutzte das Wort noch keiner.
Vermutlich beginnt das Alter, wenn die sogenannten Klassenkameraden sterben, irre werden, sich scheiden lassen, verschollen gehen oder sich plötzlich aus der jahrzehntelangen Versenkung melden und man sich kaum mehr an sie erinnert. Ich rede mir ein, er würde mich aus genau diesem Grund nicht erkennen, wenn ich ihn anspräche. Nicht wegen seiner Verfassung, sondern weil ihm genau wie mir das Stück zwischen damals und heute fehlt, das große Stück in der Mitte, um seine Geschichte (oder das, was ich dafür halte) zu begreifen. Am besten wäre es, seinen Weg zu meiden. Aber der Gedanke, ihm nicht mehr an derselben Kreuzung in der Stadt zu begegnen, ist noch beunruhigender.
Die Autorin lebt in Potsdam. Zuletzt erschien ihr Roman „Selbstporträt mit Bonaparte“
Julia Schoch
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