Landeshauptstadt: Unterm Waggon in den Westen
Mehr als 50 Jahre später: 17 ehemalige Bürgel-Schüler berichteten auf einem Treffen über ihren Lebensweg
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Am 4. Juli 1963 rollte ein Panzer T 34 durch Stahnsdorf auf die Grenze zu. Ein Gefreiter aus dem hier stationierten NVA-Regiment versuchte gemeinsam mit zwei jungen Babelsbergern den Durchbruch nach Westberlin. Doch der Panzer wurde gestoppt. Im Januar 1964 verurteilte das Militärobergericht Berlin den Soldaten zu lebenslanger Haft, seine beiden „Beifahrer“ erhielten fünf Jahre Zuchthaus.
Einer davon, Harald H., gehörte zur Runde der ehemaligen Bürgel-Schüler, die sich nach dem 50-jährigen Jubiläum ihrer Einschulung im Jahr 2000 am Wochenende zum zweiten Mal zum Klassentreffen verabredet hatten. 17 von einst 35 waren gekommen. Ihre Lebensberichte spiegelten deutsche Zeitgeschichte. Vor allem die Abriegelung der Grenze, die sie als Lehrlinge und Jungerwachsene ab 1961 traf, hat fast alle Schicksale beeinflusst. Hinzu kam etwa die Einführung der Wehrpflicht.
Einige hatten damit weniger Probleme, gingen erst zur Armee und dann ihrer Arbeit nach oder gelangten zum Studium, so Helge S. als Kulturwissenschaftler an Potsdams Kulturhäusern, nach 1989 Chef eines Bildungsvereins. Oder Kurt Sch. als begabter Maschinenkonstrukteur, der nach der Wende mit Partnern ein eigenes Unternehmen aufbaute.
Andere aber konnten sich mit der Situation nach der Grenzschließung nicht abfinden. Allein vier aus dem Kreis des Klassentreffens wurden bei Fluchtversuchen gestellt und zu Haftstrafen verurteilt. Dazu gehörte Sportfan Manne L., der noch heute kein Spiel von Babelsberg 03 verpasst. Er hatte lediglich den Gedanken geäußert, sich am Bahnhof Drewitz unter einen Güterwaggon zu klemmen und so in den Westen zu gelangen. Daraufhin wurde er von der Stasi zu einem „Gespräch“ gebeten. „Ich hatte mit zwei, drei Stunden gerechnet – nach neun Monaten war ich wieder zu Hause“, erzählte er.
Erfolgreich ging den „Drewitzer Weg“ dagegen Arnold H., Schriftsetzer im Druckhaus der „Märkischen Volksstimme“. Er gelangte, unter einem Waggon hängend, unentdeckt nach Westberlin. Hier war er lange Jahre als Korrektor beim Verlag Tagesspiegel tätig. Zum Klassentreffen konnte er nur Grüße senden, denn er lebt inzwischen auf den Philippinen. Seinen Schulfreund Helge S., den Organisator des Treffens, hat er jetzt nach Manila eingeladen.
Denn nicht nur der Mauerbau war Thema der Runde, sondern auch die Schülerstreiche in der für die meisten von 1950 bis 1958 reichenden Zeit an der Bruno-H. Bürgel-Schule. Dafür war die Begegnung mit Georg Tonn ein belebendes Element. Den für tot gehaltenen alten Klassenlehrer ab der Fünften hatte Helge S. in Kladow wiederentdeckt und eingeladen. Tonn, der später auch in den Westen ging, wirkte damals wohl recht locker und schickte schon einmal einen Schüler in der Großen Pause zum Zigarettenholen: „Fünf Turf im Papiermantel“. Doch auch mit Strafarbeiten knauserte Tonn nicht. Einer der Lümmel traf es kurz vor einem Pfingstfest einmal mehr. Seine Wut darüber kulminierte in einem bei der Feier zitierten Schlusssatz: „Ich kann Ihnen nicht leiden, ich wünsche Sie deshalb auch keine schöne Pfingsten!“ E. Hohenstein
E. HohensteinD
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