Landeshauptstadt: Violatöne gegen Vergesslichkeit
Viola-Spielerin und Pflegehelferin in einem – Romy Unbereit gibt Hauskonzerte im Kursana-Domizil
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Die alten von schwerer Arbeit geformten Hände greifen nach den zierlichen Fingern der Pflegerin. In die von Falten umrahmten wasserblauen Augen steigen Tränen. Die hohen Töne der Bratsche beschreiben einen Tanz und rauschen in den Ohren. Die Musik spült Erinnerungen von tief unten aus der Seele durch den Tränenkanal ins Freie.
Wenn Pflegehelferin Romy Unbereit im Kursana Domizil Potsdam kleine Hauskonzerte gibt, versammelt sich ihre Stammhörerschaft im Speiseraum. Die Heimbewohner sitzen an Dreier- und Vierertischen, schauen aus dem Fenster herüber zur Staatskanzlei oder auf das Stück Quarkkuchen, das vor ihnen steht. Es ist andächtig still wie im Konzertsaal. Nur ab und zu ist das Geschirrklappern zu hören, wenn jemand die Kaffeekasse leise abstellt. Mendelssohn-Bartholdy, Bach oder Volkslieder verbindet die 29-jährige Bratscherin mit kleinen Ankündigungen. Adagio oder Allegro, traurig-romantisch oder beschwingt – es ist für jeden etwas dabei. Auch für den sehr vornehm gekleideten Zaungast. Eine alte Dame hat vor der offenen Tür zum Gemeinschaftsraum auf ihrem Rollator Platz genommen und lauscht vom Flur aus. Die Violinenstunde gehört eigentlich nicht zu den Pflichtaufgaben während ihrer Dienstzeit. Neben der Unterhaltung für die Heimbewohner in der Heinrich-Mann-Allee ist es aber für Romy Unbereit so eine Art praktische Übung. Die junge Frau studiert im Aufbaustudiengang Musiktherapie und weiß um die Wirkungsweise von Tonfolgen. Gerade bei Demenzkranken schaffe man mit Musik – wenn auch nur für kurze Momente – den Anschluss an das Hier und Jetzt, sagt die Pflegehelferin.
Alte Menschen lebten ohnehin mehr in der Vergangenheit, erklärt auch die Direktorin des jüngsten Kursana-Hauses in Brandenburg, Cornelia Burkhardt. Während der Hauskonzerte könne man manchmal beobachten, wie tief in sich versunkene Bewohner „förmlich nach oben gespült“ würden, sagt sie.
Diese einmal im Monat stattfindenden Musiknachmittage gehörten inzwischen ebenso ins Programm wie das Bastelangebot, Vorträge oder Spaziergänge in die Umgebung – als gesetzte Abwechselung ins tägliche Einerlei. Das Kursana Domizil Potsdam wirkt mit seinen bunten Fluren, den großzügig geschnittenen Einzelzimmern und dem „sprechenden“ Aufzug wie ein Hotel. Hundert Plätze für Dauergäste plus sieben Kurzzeitpflegeplätze biete das Haus. Nicht alle sind belegt. Der Träger, die Kursana Residenzen GmbH, gehört zur Unternehmensgruppe Dussmann und beanspruche keine öffentlichen Fördergelder, erklärt Cornelia Burkhardt. Eine Unterbringung in ihrem Haus sei deshalb zwischen 300 und 400 Euro teurer als in geförderten Häusern – also nicht für jedermann bezahlbar.
Romy Unbereit spielt Operetten-Melodien. Der leere Blick einer Frau im Rollstuhl fixiert plötzlich einen Punkt. Eine Szene aus der Vergangenheit erscheint offenbar vor ihrem geistigen Auge scharf wie eine Fotografie. Kaum hörbar summt sie das Lied mit. Ein paar der alten Menschen schunkeln zur rhythmischen Polka. Der Bratschenbogen wippt aufgeregt hin und her. Die gespannten Sehnen berühren nur kurz die Saiten. Es wird mitgeklatscht. In der Musiktherapie ginge es aber nicht nur ums Zuhören, erklärt die musizierende Studentin, sondern ums Mitmachen. Wie allgemein in der Ergotherapie, wo die Patienten Materialien in die Hand bekämen, mit denen sie ihre Gemütszustände zum Ausdruck bringen könnten, erklärt die 29-Jährige. Sie würde nach ihrem Abschluss sehr gerne in der Kinder- und Jugendpsychiatrie eingesetzt werden, gesteht sie. Ihr dankbares Publikum, die alten Menschen, vergesse sie aber nicht, sagt Romy Unbereit. Der weißhaarige Heimbewohner mit dem ebenso weißen Schnauzbart hat die jungen Hände der Pflegerin inzwischen losgelassen und sich die Tränen mit einer trotzigen Geste aus den Augen gewischt. Jetzt greift er den Oberarm der Bratscherin und seufzt ein zufriedenes „Schön.“
Nicola Klusemann
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