WIEDEMANN bildet: Vom Wert des Erinnerns
Wir waren eine Woche in der Rhön wandern. Wir, das sind fünf ehemalige Mitschüler und Mitschülerinnen und ihre derzeitigen Lebensgefährtinnen und Lebensgefährten.
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Wir waren eine Woche in der Rhön wandern. Wir, das sind fünf ehemalige Mitschüler und Mitschülerinnen und ihre derzeitigen Lebensgefährtinnen und Lebensgefährten. Unser Wanderhotel lag in einer ehemaligen Grenzenklave, wir gingen teilweise auf ehemaligen „Kolonnenwegen“, die wegen der Löcher in den Betonplatten unsere ganze Aufmerksamkeit erforderten. Hinweistafeln erinnerten an Opfer dieses Grenzregimes und an den Straßen lasen wir häufig das genaue Datum der dortigen Grenzöffnung. In vielen Gaststätten hingen Fotos von den ehemaligen Grenzanlagen, aber auch Zeugnisse des persönlichen Involviertseins in die damalige Zeit. Unser Wanderurlaub war damit auch geprägt von Diskussionen über eine scheinbar längst vergangene Zeit, angeregt durch Zeitzeugnisse. Mich hat ziemlich beeindruckt, wie dieses „Drei-Länder-Eck“ (Bayern, Hessen und Thüringen) mit fast 30 Jahren Trennung durch eine Mauer, mit Minenfeldern und Doppelzäunen, erlebnisorientiert umgeht. Mein Eindruck war: Man setzt sich mit seiner Vergangenheit konsequent und nachhaltig auseinander.
Ich habe mich gefragt, warum ich in Potsdam so wenige Beispiele des erlebnisorientierten Erinnerns an die Zeiten des Daseins hinter und vor Mauern und Stacheldraht finde. Mein täglicher Arbeitsweg führt durch Steinstücken und außer dem zweifachen Wechsel der Ortsschilder „Berlin“ und „Potsdam“ erinnert nichts an diese ehemalige Enklave. Und dass ich durch Berlin fahre, merke ich im Moment nur an den vereinzelten Wahlplakaten. Es gibt zwar in der Steinstraße einen Hinweis auf die ehemalige Grenze, aber der umfasst nur Fakten, während auf den Schildern in der Rhön die Geschichten hinter den Fakten erzählt werden, beispielsweise vom jugendlichen Leichtsinn an den Grenzanlagen, der mit tödlichen Schüssen endete. Ich denke, dass eine permanent verfügbare, vielleicht durch Schautafeln personalisierte und emotionale Erinnerungskultur in Sachen Unrechtsstaat durchaus auch Potsdam und dem Land Brandenburg gut zu Gesicht stehen würde. Die aktuellen Diskussionen im politischen Raum zeigen ja, dass der Bogen, den das Land und wohl auch die Stadt um einen Teil seiner und ihrer Geschichte bisher gemacht hat, uns nicht wirklich weiter gebracht hat. Ich will damit keinesfalls vorhandene Aktivitäten, wie die im Schloss Glienicke oder in der Lindenstraße 54 infrage stellen – mir geht es um ein anschauliches Gesamtkonzept und um eine Erinnerungskultur, die auch Orte des erlebnisorientierten Erinnerns beinhaltet. Soviel zu den Nachwirkungen einer Rhönwanderung.
Unser Autor Dieter Wiedemann ist seit zehn Jahren Präsident der Hochschule für Film und Fernsehen Babelsberg. Er hat zahlreiche Publikationen zu Film und Fernsehen sowie zur Aufarbeitung und Wertung des DEFA-Filmerbes und des DDR- Kinderfernsehens verfasst.
Dieter Wiedemann
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